Stockhausen, K. H. (Pestova/Meyer Piano Duo)
MANTRA für zwei Pianisten
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Info |
Musikrichtung:
Neue Musik Ensemble
VÖ: 01.09.2010
(Naxos / Naxos / CD / DDD / 2009 / Best. Nr. 8.572398)
Gesamtspielzeit: 68:33
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KLANGEVOLUTION
Im 15. Abschnitt seiner Komposition MANTRA (1970) hat Karlheinz Stockhausen den Klavierklängen wirklich das Fliegen beigebracht. Der Zaubertrick, mit dem der Komponist die Nachklänge der kurz und heftig angeschlagenen Tonkomplexe auf achterbahnartigen Glissandokurven durch den Klangraum sausen lässt, nennt sich Ringmodulation: Zu den Klaviertönen wird mit Hilfe eines analogen Ringmodulators ein (unhörbarer) Sinuston gemischt. Der Ringmodulator addiert und subtrahiert die Frequenzen von Klavier- und Sinuston und produziert aus den Summen und Differenzen eine neue Tonhöhe, die über Lautsprecher projiziert wird und sich mit dem leiseren Originalklang des Klaviers mischt. Daraus ergeben sich komplexe Schwebungen und mysteriöse Spiegelharmonien. Der Klang wird vielschichtiger und bekommt eine spektrale Aura, die mehr oder weniger konsonant oder dissonant ist, je nachdem, wie sich der Klavierton und die Frequenz des Sinustones zueinander verhalten.
Entsprechend hört man Sounds zwischen glockenartig oder säuerlich-metallisch, weich fließend oder auch körnig und porös. Im 7. Abschnitt beispielsweise ist der Eindruck durch echoartiges Fortschwingen geradezu psychedelisch, während der 8. Abschnitt durch die hohe Tessitura an ein balinesisches Gamelanensemble erinnert. Derartige Assoziationen weckt die Musik zuhauf. Zusätzliche Würze bekommt das Stück durch Zimbeln und Woodblocks, die von den Pianisten angeschlagen werden und für eine orientalische, an ein Ritual gemahnende Atmosphäre sorgen. Und an einer Stelle ist sogar emphatisches, wortloses Singen gefordert, wobei die Stimmen ebenfalls ringmoduliert werden – kein Hurz-Effekt, sondern eine konsequente Ausweitung des Klangraumes, wobei die vokale Gestik vom japanischen No-Theater inspiriert ist.
Bei dieser Aufnahme wurden übrigens erstmals keine analogen Geräte eingesetzt, sondern von Stockhausens langjährigem Techniker Jan Panis eigens konstruierte digitale Ringmodulatoren. Da die alten Geräte inzwischen gar nicht mehr hergestellt werden, hängt die Zukunft dieser Musik davon ab, dass neue Lösungen gefunden werden. In diesem Fall ist das Ergebnis schlicht phänomenal. Die digitale Imitation arbeitet absolut störungsfrei und produziert einen ungemein präsenten, leuchtenden Gesamtklang.
Überdies ist das Stück bei Xenia Pestova und Pascal Meyer in den besten Händen: präzise und transparent, dabei reich an Zwischentönen klingen bei ihnen die Entfaltungen und Transformationen der dreizehntönigen MANTRA-Formel, die Stockhausen diesem Werk zugrunde gelegt hat. Wie die beiden sich die pianistischen Bälle zuwerfen und mit den Tönen und Klangfarben jonglieren, hat ebenso Referenzcharakter wie der Einsatz der Live-Elektronik.
"Formel" ist in diesem Fall übrigens im chemisch-mathematischen wie im magischen Sinn zu verstehen. Die reaktive, evolutionäre oder eben auch zauberische „Schwingungs-Essenz“ des ganzen Stückes besteht aus rund 70 Sekunden Musik (Abschnitt 2 stellt die ganze Formel einmal vor), die alle Möglichkeiten für die spätere Entwicklung bereits im Keim enthält. Jeder Ton der Formel ist charakteristisch geformt und durch daraus abgeleitete Vor- oder Nachklänge erweitert. Daraus ergibt sich eine viergliedrige „Melodie“, die noch einmal mit sich selbst gespiegelt wird, so dass die Formel im Ganzen eine gleichsam polare zweistimmige Gestalt besitzt. Durch Verfahren wie Stauchung und Spreizung (z. B. der Intervalle und Tempi) sowie Schichtung und Schachtelung der Formeltöne und -glieder beginnen die Keimzellen der Formel zu wachsen und immer neue Abschnitte auszuprägen, wobei auf die ganze Länge des Stückes alle Elemente ausgearbeitet werden. Was man bei bildgebenden Verfahren als Morphing bezeichnet, kommt hier analog in der Musik zum Einsatz. Mikro- und Makrostruktur des Werkes entsprechen einander folglich wie Mikro- und Makrokosmos.
Was in der technischen Beschreibung recht abstrakt klingt, erweist sich im Detail wie in der Großform als ausgesprochen eingängig und griffig, selbst da, wo sich in Übergangsphasen des Prozesses die Gestalten einmal verunklaren oder ins Sperrig-Konstruktivistische abdriften. Sinnlichkeit und Abstraktion, Tradition und Innovation gehen in diesem Schlüsselwerk Stockhausens eine faszinierende Synthese ein. Und wie diverse pianistische Zweikämpfe und Volten demonstrieren, hat das Stück zudem noch einigen Humor. Der MANTRA-Prozess kulminiert schließlich geradezu klassisch in einer furiosen Schlussstretta, in der sämtliche Transformationen noch einmal blitzgeschwind ablaufen (23. Abschnitt).
Dass dieses für Stockhausens weiteres Schaffen so prägende Werk in einer solchen Qualität ausgerechnet zum Naxos-Niedrigpreis zu haben ist, möchte man kaum glauben. Nicht nur für eingefleischte Fans!
Georg Henkel
Besetzung |
Pascal Meyer & Xenia Pestova: Klaviere & Schlagzeug
Jan Panis: Elektronik
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