Anti-Aging: Blind Guardian spielen ihr Meisterwerk Imaginations From The Other Side komplett




Info
Künstler: Blind Guardian

Zeit: 26.08.2017

Ort: Dresden, Alter Schlachthof

Internet:
http://www.blind-guardian.com

Man schrieb das Jahr 1995, als Blind Guardian drei Jahre nach Somewhere Far Beyond ihr fünftes Studioalbum Imaginations From The Other Side veröffentlichten und mit diesem Album die für ihre Verhältnisse bestmögliche Kombination aus Anspruch und Eingängigkeit schufen. Der Rezensent steht mit dieser Meinung keineswegs allein da, wie eine Episode aus dem Jahr 2003 verdeutlicht: Vor ihrem eigenen Festival in Coburg hatten Blind Guardian die Fans zur Mitbestimmung über die Setlist aufgerufen, die in diesem Falle extralang ausfallen konnte, da die Krefelder an beiden Abenden jeweils einen vollen Headlinerset spielten – und alle neun Songs des besagten Fünftlings landeten auf den „Preisrängen“ und wurden folgerichtig in den beiden Sets dann auch gespielt. Beim Rezensenten steht das Album in der Alltimefaveliste auf Platz 4 hinter Nightwishs Oceanborn, dem HammerFall-Debüt und dem die Pole Position einnehmenden Seraphim-Meisterwerk The Equal Spirit und gehört zu den Alben, die er quasi zu jeder Tages- und Nachtzeit und in jeder Stimmung auflegen kann. Freilich hat es damals im letzten Jahrtausend eine Weile gedauert, bis es diesen Status eingenommen hatte, und damit ist eine weitere Geschichte verbunden: Imaginations ... erschien im Frühjahr 1995, und nur kurze Zeit später, im Mai, gingen Blind Guardian mit ihm bereits auf Tour. Der Booker beging dabei die Ungeschicklichkeit, an einem Mittwoch (es war der vor Himmelfahrt) einen Gig in Leipzig anzusetzen und vier Tage später, am Sonntag, gleich noch einen in Chemnitz, was das Fanpotential in Sachsen überforderte, so daß beide Hallen dem Vernehmen nach (Chemnitz) bzw. selbst erlebt (Leipzig) allenfalls mäßig gefüllt waren. Fortan machte die Band um Sachsen und generell um die südlichen neuen Bundesländer einen großen Bogen, was sich erst 2015 mit einem Gig in Leipzig wieder geändert hat (wenn der Rezensent nichts übersehen hat). Die Stimmung in Leipzig war trotzdem klasse (weniger wegen den etwas orientierungslos wirkenden Nevermore als Vorband, die damals grade erst ihr selbstbetiteltes Debüt am Start hatten) und der Damals-Noch-Nicht-Rezensent in einer seltsamen Lage: Er kannte zwar die ersten drei Blind-Guardian-Alben, Somewhere Far Beyond und eben das neue Album aber noch nicht (für die jüngeren Leser zum Verständnis: Wir befinden uns in einer Zeit, als Youtube noch nicht existierte, das Internet in den Kinderschuhen steckte, MTVs „Headbangers Ball“ als einzige Metalsendung im Fernsehen dem traditionellen Metal nicht eben wohlgesonnen war und selbst die Magazin-CD-Beilage noch nicht erfunden war, man sich als kaum begüterter Student also fokussieren mußte, was man erwarb, und wenig Alternativerkundungen vornehmen konnte), und somit staunte er nicht schlecht, als um ihn herum plötzlich alle lauthals eine folkige Akustikballade mitsangen, die sich dann als der erste der beiden „Bard’s Songs“ entpuppte. Trotzdem fand er den Gig klasse, zumal natürlich auch diverse alte Songs gespielt wurden, die er gut kannte, und einige Zeit später fanden dann auch die beiden noch fehlenden Alben und die Japan-Livescheibe den Weg in die hiesige Tonträgersammlung. Daß es dann aber 22 Jahre dauern würde, bis er die Band zum nächsten Mal sah, das konnte er damals natürlich noch nicht ahnen.

Selbiges nächstes Mal findet am letzten Augustwochenende in Dresden statt, und Blind Guardian, für die das der letzte Gig vor einer zweijährigen Konzertpause ist, an deren Ende sie neues Studiomaterial fertighaben wollen, und die in ihren 30 Jahren Bandexistenz noch nie in der sächsischen Landeshauptstadt aufgetreten sind, haben etwas Spezielles angekündigt, was sie diesen Sommer auf diversen Festivals bereits getan haben, allerdings mit geringfügigen Ausnahmen nur außerhalb der deutschen Grenzen, und was sie 2016 in den USA sowie auf einigen wenigen Europagigs bereits erprobt hatten: Sie wollen das Imaginations From The Other Side-Album als Ganzes aufführen und rennen beim Mittlerweile-Rezensenten damit natürlich offene Türen ein. Da das Ganze vor dem oben beschriebenen Hintergrund auch eine sehr persönliche Komponente hat, wechselt der Text jetzt (und das ist das erste Mal seit vielen Jahren!) aus der dritten in die erste Person. Ich fahre rechtzeitig zu Hause los, aber der Alte Schlachthof hat nur eingeschränkte Parkmöglichkeiten, und die Wohngebiete ringsum sind alsbald auch voll besetzt, so daß ich relativ weit abseits parken muß, einen weiten Fußweg vor mir habe und gerade noch rechtzeitig während des Intros in die Halle komme, wo sich hinter dem Mischpult ein günstiger Platz für mich findet, während die Band mit „The Ninth Wave“ loslegt und damit quasi die neuen Blind Guardian symbolisiert, denen die alten mit „Welcome To Dying“ auf dem Fuße folgen. Ich halte, wie man meiner Rezension zu Beyond The Red Mirror auf www.crossover-agm.de entnehmen kann, „The Ninth Wave“ für einen von zwei Klassikern auf besagtem aktuellen Album, aber schon hier wird der Unterschied deutlich: „The Ninth Wave“ nehme ich mit dem Kopf, „Welcome To Dying“ vom Drittling Tales From The Twilight World aber mit Kopf und Herz auf. Nach dem zweitgenannten Song bin ich jedenfalls keine 41 mehr, sondern wieder 19, und das zementiert die Band ab Song 6 dann weiter. „Nightfall“ und auch „Fly“ haben zunächst die Betriebstemperatur im sehr gut gefüllten Alten Schlachthof kaum absinken lassen (so was Schleppend-Getragenes wie „Nightfall“ schon an dritter Position und noch dazu nach dem Ultraspeed von „Welcome To Dying“ zu bringen muß man sich auch erstmal trauen), in „Prophecies“, dem zweiten und auch letzten Beitrag des aktuellen Albums, gähnt aber nicht nur die hübsche Rothaarige links neben mir.
Aber all das ist vergessen, als die Band danach von der Bühne verschwindet und ein ausgedehntes Sample-Intro beginnt, das in den Titeltrack von Imaginations From The Other Side überleitet, wonach die Krefelder das Album in seiner Originalreihenfolge spielen. Dankenswerterweise spielen sie es auch instrumental in den Originalarrangements, so daß ich weder beim Headbangen noch beim Luftgitarre- oder Luftdrumsspielen aus dem Takt komme. Daß Hansi Kürschs Stimme mittlerweile auch 22 Jahre älter ist, sich ihre Tessitur nach unten verschoben hat und er einige Passagen ziemlich pressen oder gar in fast blackmetallisches Gekreisch verschieben muß – geschenkt: Das Auditorium singt eh so laut mit wie er, der kurioserweise vom Soundmenschen etwas nach hinten gemischt wird, was übrigens auch auf Marcus Siepens Rhythmusgitarre zutrifft, während vor allem André Olbrichs Gitarrenleads erstklassig aus dem druckvollen, aber nicht überlauten Klangbild herausstechen. Ich verliere bei diesem Konzert mehr Flüssigkeit als bei fast allen anderen Konzerten der letzten Jahre, und das liegt keineswegs nur an den enorm hohen Temperaturen in der Halle, wobei die hohe Decke ein Stickigkeitsgefühl verhindert. Wenn es einen Song unter diesen neun gibt, der gleicher als die anderen gleichen ist, dann das enorm eindringliche „The Script For My Requiem“, aber auch die anderen acht punkten enorm hoch – und wie erwähnt bin ich ja nicht mehr 41, sondern wieder 19, auch wenn ich die damalige Intensität beim Headbangen heute aus physiologischen Gründen etwas reduzieren muß.
„And The Story Ends“ markiert wie geplant das emotional ergreifende Finale dieses Konzertteils, aber es fehlt natürlich noch einiges. „Stellt Euch auf einen langen Abend ein“, hatte Hansi angekündigt, und sechs Nummern folgen auch tatsächlich noch, sozusagen als ausgedehnter Zugabenblock, an dessen Ende bis auf A Night At The Opera jedes Studioalbum Berücksichtigung gefunden hat. Daß die Stimmung bei „Valhalla“ und „The Bard’s Song – In The Forest“, den ich nun natürlich auch begeistert mitsinge (die hübsche Rothaarige neben mir tut das übrigens nicht), kaum zu überbieten sein dürfte, war von vornherein klar, aber wenn man sich „Majesty“ mal genau anhört, bemerkt man, wie weit Blind Guardian schon zu Zeiten ihres Debüts waren, wenn es darum geht, melodischem Speed Metal eine komplexe Note zu verpassen, was sie dann wie dargelegt auf Imaginations From The Other Side perfektionierten. „Barbara Ann“ als Finalcover kommt diesmal ohne „Long Tall Sally“ als zweiter Teil, aber dafür bastelt Hansi noch eine Zeile aus „Johnny B. Goode“ ein, und ein ausgedehntes Orchesteroutro macht nach reichlich zwei Stunden klar, daß nicht mit weiteren Zugaben zu rechnen ist, selbst wenn die Anhängerschaft Hansis Aufforderung, die markante „Valhalla“-Textzeile am Ende besagten Songs noch 30 Minuten weiterzusingen, befolgt hätte. Ich bin jetzt jedenfalls wieder 19, und daß mich ein Gewitter auf dem Rückweg zum Auto in einen begossenen Pudel verwandelt, weil ich im spätpubertären Leichtsinn nur die leichte Regenjacke mit zur Halle genommen hatte, obwohl auch noch die schwere im Kofferraum lag, paßt am Ende irgendwo ins Bild.

PS: Einige Tage nach dem Konzert fällt mir die Setlist eines der 2016er Europagigs in die Hände: In Pratteln kam der Klassiker „Time What Is Time“ anstelle des eher lauen „Prophecies“, und der letzte Konzertblock wurde noch durch „War Of Wrath/Into The Storm“, „The Curse Of Feanor“ und „Lord Of The Rings“ erweitert. So stark das Dresden-Konzert auch war – es hätte also immer noch eine potentielle Steigerungsstufe gegeben ...

Setlist:
The Ninth Wave
Welcome To Dying
Nightfall
Fly
Prophecies
Imaginations From The Other Side
I‘m Alive
A Past And Future Secret
The Script For My Requiem
Mordred‘s Song
Born In A Mourning Hall
Bright Eyes
Another Holy War
And The Story Ends
--
Sacred Worlds
Valhalla
Majesty
The Bard‘s Song – In The Forest
Mirror Mirror
Barbara Ann


Roland Ludwig



 << 
Zurück zur Artikelübersicht
 >>