Säbeltanz auf dem Ararat: Gisela Ramming-Leupold stellt Armenien vor




Info
Autor: Gisela Ramming-Leupold

Titel: Armenien – Land am Ararat. Geschichte, Religion und Tradition

Verlag: Mitteldeutscher Verlag 2017 (2., überarbeitete Auflage)

ISBN: 978-3-95462-028-9

Preis: € 24,95

280 Seiten

Internet:
http://www.mitteldeutscherverlag.de

Zwei der großen Kaukasusvölker definieren sich als solche an herausgehobener Stelle (nämlich in einer imaginären Rangliste der Definitionsfaktoren gleich nach der Religion) über die Musik: die Georgier und die Armenier. Während für erstgenannte allerdings die Wiederentdeckung der georgischen Polyphonie (die Jahrhunderte älter als die mitteleuropäische ist) seit den 1970er und 1980er Jahren ein markantes Moment war, das sich in die Desowjetisierungsbewegung der damaligen Zeit einfügte, liegt die markanteste Epoche der armenischen Musik in der Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als Soghomon Soghomonjan, besser bekannt als Komitas, die historisch überlieferte Musik der Armenier zu revitalisieren begann und damit bis 1915 bereits ein solches Level erreicht hatte, daß die Vernichtung großer Teile der in der Türkei lebenden Armenier und die Verstreuung der Überlebenden in alle Welt die Entwicklung nicht mehr aufhalten konnte: Wo auch immer die Überlebenden sich sammelten, die Musik bildete eines ihrer zentralen Bindeglieder, einen kulturellen Nährboden, in dem so unterschiedliche Künstler wie Aram Chatschaturjan, der aufgrund des Säbeltanzes aus dem Ballett Gajaneh international wohl bekannteste armenische Komponist, oder System Of A Down als populärste armenischstämmige Rockband wurzelten, daneben aber auch mancherlei andere Künstler, denen man ihre armenische Herkunft nicht gleich anmerkte, etwa Charles Aznavour. Und noch etwas haben die Armenier zur heutigen internationalen Musikkultur beigetragen: das Duduk, ein Doppelrohrblattinstrument aus der Verwandtschaft der Oboe, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten in der Filmmusik umfangreichen Einsatz gefunden hat, wenn es darum geht, leicht melancholische Stimmungen oder aber einen Eindruck großer Weite zu transportieren. Daneben existiert in Armenien aber auch ein musikalischer Untergrund, auf den während seiner Bergtour in ebenjenem Land im Juli 2017 zu stoßen der Rezensent im Vorfeld nicht unbedingt vermutet hätte. Aber die drei Jeepfahrer zum Hochlager am Nalsar entpuppten sich allesamt als Metaller, die partiell auch selbst in Bands spielten, so daß eine kleine Fachsimpelei natürlich nicht ausbleiben konnte (und sich herausstellte, daß keineswegs alle armenischen Metaller Blood Covenant, die führende christliche Black-Metal-Band Armeniens, mögen).

Der Rezensent hat also Armenien erst unlängst besucht, nachdem er den heiligen Berg der Armenier, den aktuell auf türkischem Gebiet liegenden, aber bei passendem Wetter von einem Großteil des armenischen Territoriums aus sichtbaren Ararat, bereits neun Jahre zuvor bestiegen hatte, aber seinerseits dort wegen dichten Nebels keinen Quadratmeter armenischen Bodens zu Gesicht bekam. Die 2017er Tour sah neben diversen kulturellen Aspekten im wesentlichen Besteigungen der höchsten auf heutigem armenischem Gebiet liegenden Berge vor, und in der Tourvorbereitung hat der Rezensent diverse Literatur gewälzt, so u.a. die nur zwei Monate vor Aufbruch, also noch eben rechtzeitig erschienene zweite Auflage des Buches Armenien – Land am Ararat von Gisela Ramming-Leupold. Wie der Untertitel Geschichte, Religion und Tradition deutlich macht, ist es natürlich kein pures Musikbuch, aber die Musik als einer der erwähnten zentralen Zusammengehörigkeitsfaktoren des armenischen Volkes spielt selbstverständlich eine markante Rolle in vielen Schilderungen, und beispielsweise Komitas bekommt ein Sonderkapitel gewidmet. Und es gibt viele weitere Querverweise, etwa in Richtung Architektur: Im Kloster Geghard beispielsweise, einem der armenischen Nationalheiligtümer und mittlerweile auch UNESCO-Welterbe, gibt es eine Kapelle mit einer ganz speziellen Akustik, die der Rezensent auf seiner Tour zufällig durch den Auftritt eines lokalen Sängerquartetts demonstriert bekam und, nachdem diese ihr Konzert beendet hatten und alle anderen Besucher den Raum verlassen hatten, natürlich auch noch selbst erprobt hat.
Damit sind wir bei einem weiteren der zentralen Faktoren: Religion und, untrennbar damit verbunden, Baukunst, zu bewundern noch heute in den zahllosen Klöstern und Klosterruinen, die das Gros des historischen Baubestandes des Landes stellen, obwohl es auch noch unabhängig davon erhaltene historische Fortifikationsarchitektur gibt, etwa in der Festung Amberd, nach der sich wiederum eine recht bekannte armenische Metalband mit mehreren Tonträgern benannt hat. Aber der Fokus des Buches von Gisela Ramming-Leupold, um endlich wieder den Bogen zu ihm zu spannen, liegt auf Religion und Architektur, ohne wie erwähnt andere bedeutende Faktoren zu vernachlässigen. Freilich braucht der Leser schon fundierte religionshistorische Kenntnisse, um gerade die ersten Kapitel erfassen und verstehen zu können – das Buch ist grob chronologisch angelegt, und gerade die früharmenische Geschichte ab der Deklaration des Christentums zur Staatsreligion anno 301 ist so stark religiös determiniert, daß man ohne zusätzliches Hintergrundwissen kaum auskommt, da die Autorin in ihrem Bestreben, das Buch auch breiteren Leserschichten zugänglich zu machen, nicht immer die richtige Balance zwischen Urschleim-Erklären und Wissen-Voraussetzen findet. Die Formulierung assoziiert freilich, daß es ihr in vielen Fällen doch gelingt, und wenn man vielleicht zuvor schon den Klassiker Land um den Ararat von Alfred Renz gelesen hat, fügt sich vieles wie in einem Puzzle zusammen. Gisela Ramming-Leupold beschränkt ihre Darlegungen naturgemäß nicht auf das Territorium des heutigen Armenien, sondern läßt ihren Blick über das ganze Areal historischen armenischen Siedlungsgebietes schweifen, was ihr einen erfreulich ganzheitlichen Blick ermöglicht, auch wenn der im heutigen nationalstaatlichen Gehabe vor Ort, an dem alle Seiten ihre Aktie haben, so manchem Menschen nicht gefallen wird. Seltsamerweise fällt der Blick allerdings selten nach Norden zum heutigen georgischen Nachbarn, zu dem es mannigfache Berührungspunkte bis hin zu gemeinsamen Herrschaften gab. Als anstrengend kann man auch den Versuch der Autorin ansehen, Phänomene der armenisch-apostolischen Religion mit lutherischem Verständnis zu fassen, was schon bei der Funktion des Kreuzes große Schwierigkeiten hervorruft: armenisches Lebenssymbol (und daher mit abgerundeten Balkenecken, wie es kurioserweise auch im Logo der floridanischen Metalband Powersurge vorkommt, von der der Rezensent daher nicht ganz zufällig im Rucksack ein Shirt dabeihatte) versus lutherisches Erlösungszeichen, das den Tod voraussetzt. Aber auch hier tun sich wieder umfangreiche Anknüpfungspunkte zum Weiterdenken auf, und das Verdienst dieses Buches ist neben der reinen Informationsvermittlung ebenjene Neugierigmachung, die auf den 280 reich bebilderten Seiten über die verschiedenen geschichtlichen Epochen hin in unterschiedlichem Maße erfolgt – stärker in der weiten Vergangenheit, auch noch relativ stark in der Genozidaufarbeitung von 1915, kaum aber in der offensichtlich noch zu nah liegenden Sowjetperiode, die sich mit wenigen Seiten und Andeutungen begnügen muß, ebenso wie die allerjüngste Geschichte.
Was einem allerdings beim Lesen sauer aufstößt, ist der Fakt der offenbar recht schludrig angefertigten Überarbeitung für die zweite Auflage – in diversen Absätzen stehen jetzt Trennstriche mitten in der Zeile, und die Tippfehlerquote ist an einigen Stellen auffällig hoch. Da hätte man etwas mehr Zeit und Sorgfalt verwenden sollen, wobei dem Rezensenten die erste Auflage nicht bekannt ist und er daher nicht einschätzen kann, ob die betreffenden Problemfälle bei der Überarbeitung dazugekommen sind oder schon in der ersten Auflage vorhanden gewesen waren. Den grundsätzlichen Wert des Buches, nämlich die Möglichkeit der Einarbeitung in die armenische Kultur mit Fokus auf Religion, wie es die eingangs erwähnte Volksdeterminierung nahelegt, unter Blick auf andere Aspekte wie Architektur, Musik etc., schmälern diese gelegentlichen Problemfälle allerdings nicht. Wenn man indes die Gelegenheit bekommt, auch noch das erwähnte Buch von Alfred Renz antiquarisch zu bekommen (es war lange Zeit kaum oder nur zu recht hohen Preisen zu kriegen, aber zum Rezensionszeitpunkt im August 2017 stehen auf www.booklooker.de mal wieder einige Exemplare zu recht günstigen Preisen), sollte man gleichfalls zugreifen und dieses Buch (das in den 1980ern erschienen und naturgemäß auf dem damaligen Stand ist) vor dem 2017er lesen.



Roland Ludwig



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