Musik an sich


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Händel, G. F. (Jacobs, R.)

Orlando


Info
Musikrichtung: Barock Oper

VÖ: 09.05.2014

( Deutsche Grammophon Archiv / Universal / 2 CD / 2013 / Best. Nr. 00028947921998)

Gesamtspielzeit: 160:02



MUSTERGÜLTIGE SYNTHESE

Gleich die Ouvertüre dieser Neueinspielung von G. F. Händels später Oper Orlando lässt aufhorchen: ein voller, kraftvoll-sinnlicher Orchesterklang verbindet sich mit artikulatorischer Finesse - selten klingt Händels Musik so vielschichtig und kontrastreich. Dazu kommt eine Aufnahmetechnik, die dem Klangraum ebenso viel Aufmerksamkeit widmet wie dem, was darin passiert. Die luftige Weite trägt einiges dazu bei, dass Händels barocke Zauberoper sich in all ihrer Klangmagie entfalten kann. Wobei es wieder einmal René Jacobs ist, der sich nicht nur als Dirigent eines ausgewählten Ensembles, sondern als musikalischer Feuerwerker betätigt und die Partitur mit allerlei akustischen Theater-Effekten anreichert. Da brausen die Winde, zwitschern die Vögel und donnern, fauchen und flammen die pyrotechnischen Elemente, dass es eine Lust ist.
Und nicht nur das: Die Rezitative, die im Orlando bereits von Händel durch instrumentale Sinfonien und allerlei orchersterbegleitete Zwischenformen aufgelockert und differenziert wurden, werden von Jacobs einer fantasievollen Relektüre unterzogen. Zwei Cembali, Orgel, Laute und sogar eine Harfe kommen zusammen mit Cello und Kontrabass zum Einsatz, um die gesungenen Verse nicht nur zu begleiten, sondern zu kommentieren und zwischen den Arien-Nummern zu vermitteln. Das gelingt so gut, dass der Orlando in dieser Version fast schon durchkomponiert wirkt. Es scheint so, das Jacobs hier die Bilanz seiner jahrzehntelangen Händelexegese zieht; was in den früheren Aufnahmen mitunter noch experimentell und manchmal auch demonstrativ wirkt, ist hier in einer großen Synthese aufgegangen.
Für Puristen dürfte das ein Graus sein; ihnen bleiben freilich mit Christopher Hogwoods klassisch- und William Christies romantisch-barocker Deutung zwei Alternativen, die auf ihre Weise nicht minder überzeugend sind. Jacobs ergänzt die beiden grundverschiedenen älteren Interpretationen jetzt um eine gleichsam filmische Variante - man sieht, was man hört, weil Jacobs das vorzügliche B'Rock Orchestra Ghent in jedem Moment zum erzählen, schildern und ausmalen anhält. Das Tempo ist dabei um einiges höher als bei den Vergleichseinspielungen, wirkt aber nicht gehetzt; eher scheinen einige Tempodehnungen, die William Christie sich erlaubt, trotz aller Schönheit, extremer und 'unhistorischer' als Jacobs Vorwärtsdrängen.

Sängerisch hat er mit Bejun Mehta die Hauptrolle mit einen Countertenor besetzt, der den Orlando schon vielfach gesungen hat. Mehta überzeugt durch eine bis ins letzte Detail ausgereiften, dramatische Interpretation, die rhetorisch und klangfarblich alle verfügbaren Register zieht. Vom zartesten Flötenpiano bis hin zum galligen Ausbruch zeichnet er das Bild eines an sich und der Liebe irre werdenden Helden (weder der sanfte James Bowmann (Hogwood) noch die eher artifiziell agierende Patricia Bardon (Christie) haben vergleichbar komplexe Porträts geschaffen). Auch weil Mehta nicht so sehr über eine homogene und ätherische als charaktervolle Stimme verfügt, ist das kein Fest reinen Wohlklangs. Bei einem derart ambivalenten, durch den Wahnsinn gehenden Charakter wie Orlando wäre das auch unangebracht. Zu loben für ihre innigen Darbietungen sind auch Sophie Karthäuser als Angelica und Sunhae Im als Dorinda; letztere vereinigt sozusagen die Stimmfarben von Emma Kirkby (Hogwood) und Rosa Mannion (Christie). Auch Orlandos Gegenspieler, Medoro, ist mit dem dunklen, schillernden Mezzo von Kristina Hammarström auf Augenhöhe besetzt; abgerundet wird das Ensemble durch den basstiefen Magier Zoroastro von Konstantin Wolff, der zwar nicht über die virtuose, zauberische Eleganz von Harry van de Kamp (Christie) verfügt, aber als 'Meister der Intrige' ohne Zweifel die nötige Autorität ausstrahlt.

Insgesamt ein Musterbeispiel dafür, wie Händels Musik heute überzeugend zu beleben ist - nach den vielen stereotypen Produktionen der letzten Jahre, die oft nur den aktuellen Barockhype bedienen und keine Ideen für das jeweilige Werk entwickeln, ist das eine echte Freude!



Georg Henkel



Trackliste
CD I Akt I-II 77:15
CD II Akt II-III 82:47
Besetzung

Bejun Mehta: Orlando
Sophie Karthäuser: Angelica
Kristina Hammarström: Mdoro
Sunhae Im: Dorinda
Konstantin Wolff: Zorostro

B'Rock Baroque Orchestra

René Jacobs: Leitung


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