Musik an sich


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SELBSTVERDAUUNG EINER BRANCHE

RENNER UND STEIN MÜSSEN GEHEN

Die Selbstverdauung der Musikbranche hat das obere Management erreicht: Am 14. Januar trennte sich Universal Music von seinem scheinbar omnipotenten "Wunderkind" Tim Renner, zwei Tage später wurde der als Superstar-Juror bekannt gewordene Thomas M. ("Onkel") Stein von der BMG mit sofortiger Wirkung abgesetzt. Sie folgen dem deutschen Geschäftsführer der EMI, Udo Lange, der bereits im Sommer 2003 seinen Sessel räumen musste.
Die drei teilen das Schicksal zahlreicher Mitarbeiter, die im Zuge von Rationalisierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen in den vergangenen Jahren von den fünf Branchenriesen "freigesetzt" wurden. 30-40% Personalabbau sollten ebenso wie die Kündigung zahlreicher Künstlerverträge zur Gesundschrumpfung beitragen: Seitdem die Umsätze für die bis Anfang der 90er Jahre prosperierenden Musikindustrie in nie gekanntem Maße eingebrochen sind, scheinen substantielle Amputationen selbst im Kreativ-Bereich der Label(konglomerate) ein probates Mittel zu sein, die Krise zu überleben. Weitere Schrumpfungsprozesse dürfte die bevorstehende Fusion von Sonymusic und BMG zur Folge haben. Gerade wurde auch noch Warnermusic an eine neue Investorengruppe verkauft, die dort nach eigenem Bekunden noch viele ungenutzte Einsparungsmöglichkeiten vermutet.

Nur um die Musik, um die geht es eigentlich nicht mehr.

Die Begründungen für die Entlassungen von Renner und Stein werfen ein bezeichnendes Licht auf die Orientierungslosigkeit der Entscheidungsträger – und den Zynismus, mit der "human resources" und letztlich auch das "Produkt" verschlissen werden. Stein verschaffte der BMG im letzten Jahr zwar erhebliche Marktzuwächse, lag also mit seiner Mainstream-Strategie zumindest in dieser Hinsicht ganz richtig (wenngleich das Superstar-Modell bereits arge Ermüdungserscheinungen zeigt und für dieses Jahr kaum ein vergleichbarer Hype zu erwarten ist). Doch die Rendite fiel nicht entsprechend aus, was die Konzernoberen und ihre Aktionäre verdross. Tim Renner hingegen setzte auf Vielfalt und Nischen – was dem amerikanischen Mutterunternehmen zu teuer war. Dort verfolgt man das Stein-Konzept der Massenkompatibiltät globaler Stars.
Monokulturen versprechen vordergründig schnelle Mega-Gewinne, aber wehe, es kommt zu Störungen. Außerdem muss ständig nachgelegt werden, weil das Verfallsdatum der neuen Superstars inzwischen bei wenigen Monaten liegt. Das Marketing-Geschrei der Majors wurde in der Vergangenheit immer lauter, die Inhalte und Substanz dagegen immer lauer. Die Voraus-Gagen für Hoffnungsträger wie Robbie Williams erreichten phantastische Höhen, die Verkäufe aber sanken weiter. Oder erfüllten zumindest nicht die irrealen Erwartungen. Es fehlt an Augenmaß und ökonomischen Gewissen, die Vorstellungen sind völlig übersteigert. Da würden selbst einfache Gewinne und Schwarze Zahlen nicht ausreichen, es müssen schon Mega-Gewinne sein, um die Phantasien von Anlegern und Investoren befriedigen zu können.

DIE ZITRONE HAT ZU WENIG SAFT

In den obersten Etagen zählen allein die Gewinne, die sich abschöpfen lassen. Da ist die Musiksparte häufig nur noch eine (kleine) Zitrone unter anderen, die man presst. Nur hat erstere im Augenblick nicht mehr allzuviel Saft. Das nahrhafte Kreativ-Potential wurde in den fetten Jahren vernachlässigt und Wurzelstände trockengelegt, aus denen potente Nachwuchskünstler (und nicht nur TV-gestützte Eintagsfliegen) hätten hervorgehen können. Nur schwerfällig reagierten die Unternehmen auf die Veränderungen: Internet, Digitalisierung, Marktverschiebungen, Änderung der Konsumverhaltens. Aus der Not geborene Preissenkungen und Billig-CDs ließen beim Verbraucher das Wertbewußtsein für das kreative und in der Musikproduktion sehr wohl kostspielige Medium sinken, animierten ihn aber nicht unbedingt zum Kauf. Marketing-Kampagnen, synthetische Stars und werbewirksame Selbstbelobigungen in Form der "Echo-Preisverleihungen" haben den Negativtrend nicht aufhalten können. Kreativität und Originalität lassen sich eben nicht durch Master-Pläne des Management produzieren. Zumal sich das Management immer öfter aus branchenfernen Leuten zusammensetzt. Heute verkauft man Waschmittel, morgen Damenunterwäsche, übermorgen Musik. Gern wird da jene Anekdote von einem unbedarften EMI-Verantwortlichen kolportiert, der die Aufnahmen der Callas aus dem Programm nehmen wollte. "Wer ist das, die ist doch schon lange tot!" Die Tosca-Aufnahme der Toten verkaufte sich kürzlich in der 100. Auflage.

Auch die Klassik-Majors, im Goldgräberrausch der frühen 90er Jahre inzwischen ebenfalls aufgekauft, fusioniert und globalisiert, bekamen den Verlust charismatischer Zugpferde wie Karajan und Bernstein zu spüren. Abgesehen davon, dass sich die dort die stete Neu-Produktion der immergleichen Standard-Stücke für die darauf spezialisierten Majors als Bumerang erwies. Die CD hat den aktuellen Niedergang lediglich verzögert, weil sie erlaubte, das ganze Repertoire noch einmal digital aufzunehmen und den Backkatalog wiederzuveröffentlichen. Inzwischen ist der Markt einfach gesättigt, die Neuproduktion wurden drastisch zurückgefahren, auch gut verkäuflichen Künstlern die Verträge gekündigt und Traditionslabel wie Erato und Teldec einfach "umstrukturiert", d. h. aufgelöst.

NISCHENGEWÄCHSE

Was noch blüht, sind Nischengewächse mit unverbrauchter Alter wie Neuer Musik, und Label, die ihre Künstler pflegen. Häufig geht auf dem "großen Markt" erst nach Jahren auf, was lange als Geheimtip oder Kost für Spezialisten gereift ist. Darauf kann oder will man bei den Majors aber nicht mehr warten. Oder es handelt sich um Label, die unabhängig sind, eine konzise, qualitätsbewußte, "alternative" Programmgestaltung haben und ihre Gewinne konsequent in das Produkt reinvestieren. Jene Hörerinnen und Hörer, die einen etwas spezielleren, gar originellen Geschmack haben, pflegten und pflegen ihre Nischen, kaufen und sammeln sogar noch originale Platten. Ihre Zahl geht aber zurück – ökonomisch werden sie für die "Großen" daher uninteressant. Kleine Label können mit damit eher leben. Sie müssen ja auch nicht als Global-Player Rendite-Ansprüche befriedigen. Vielfalt kostet eben, wie Tim Renner richtig erkannt hat. Kreativität auch. Vor allem braucht sie Zeit, um zu reifen und Freiräume für Experimente.

Und manchmal bedarf es auch einfach der Gunst der Stunde: Das französische Label Alpha wurde 1998 von dem gelernten Organisten und Marketing-Chef einer Sofware-Firma, Jean-Paul Combet, einfach aus dem Bedürfnis gegründet, etwas Schönes zu machen. Gleich die erste Aufnahme mit randständigem Repertoire, frühbarocken Monodien, wurde zum Erfolg. Ansonsten, so Combet, wäre mangels Rücklagen die erste auch gleich die letzte Aufnaheme des neuen Labels gewesen. Von Kritikern, Sponsoren und Medien gab es Unterstützung: Erfolg zieht Geld an. Doch das Entscheidende ist ein wachsender Kreis von Liebhabern, die die Qualität der Alpha-Aufnahmen honoriert. Das betrifft das Programm, den Klang und die Gestaltung. Wer hätte nach dem Naxos-Schock gedacht, dass so etwas noch einmal funktionieren würde!?
Gewiss: Die Major-Chefs mögen über die 25 000 verkauften Platten einer Produktion mit Renaissance-Musik lächeln: Nicht genug Rendite! Der Musik-Liebhaber freilich darf trotz der Misere optimistisch sein: Die "Freisetzungen" schaffen auch neue Freiräume für kreative Köpfe, die sich wieder mit der Musik identifizieren – und nicht nur mit den Gewinnen.

Georg Henkel