Mitja II: Eötvös, Dun und Schostakowitsch mit dem Gewandhausorchester




Info
Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 30.11.2017

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Roger & Renate Rössing (Deutsche Fotothek)

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

Der Schlagzeuger Martin Grubinger ist im Gewandhaus ein gern gesehener Gast, gehört der Österreicher doch zu den ganz wenigen Solisten, die ganz aktuelle Kompositionen darbieten und dafür vom Publikum ähnlich vehement gefeiert werden wie die Besten derjenigen, die sich um das klassisch-romantische Orchesterwerk kümmern. Das wird auch bei den Konzerten der November-Dezember-Übergangswoche wieder deutlich: Fünfmal spielen Grubinger und das Orchester innerhalb von drei Tagen im Großen Saal, und selten bleibt ein Platz leer, während die Begeisterung von den Rängen zumindest im vom Rezensenten erlebten Konzert kaum Grenzen kennt. Zugleich ist dieses Konzert das zweite der ungewöhnlichen „Mitja“-Schostakowitsch-„Reihe“ des Rezensenten im Spätherbst 2017. Hier geht’s zu den Rezensionen zu Mitja I, Mitja III und Mitja IV.

Das Programmheft weist Peter Eötvös‘ Speaking Drums – Four Poems for Percussion Solo and Orchestra als zweites Werk aus, aber es rückt auf Grubingers Wunsch an die erste Stelle. Das Orchester ist sehr überschaubar besetzt, hinten stehen zwei Percussionisten, während Grubinger vorn inmitten einer riesigen Soloburg agiert, gegen die Keith Emersons Keyboardfestungen minimalistisch wirken und in der der Solist einiges an Wegen zwischen den Instrumenten zurückzulegen hat. Dazu kommt ihm noch eine weitere Rolle zu, denn er ist mit einem Kopfmikrofon ausgestattet und muß/darf während des Spiels auch noch die titelgebenden vier Gedichte rezitieren, die von Sándor Weöres stammen. Text im klassischen Sinne haben sie allerdings nicht, sondern bestehen lediglich aus Nonsenslauten und einigen realen Worten, die aber alle Nicht-Ungarn im Publikum problemlos auch für Nonsenslaute halten können. Das ganze Bild findet dann noch mit Mimik und Gestik des Solisten seine Abrundung, und obwohl manche Passage eher wie eine Entsprechung einer Urschreitherapie anmutet und man nicht so richtig weiß, was man jetzt hier ernstzunehmen hat und was nicht, entfaltet das Ganze zumindest in der Livesituation durchaus Unterhaltungswert und ist zudem strukturell so gut nachvollziehbar, dass einem die 25 Minuten durchaus nicht wie 50 vorkommen (ein nicht seltenes Phänomen in der Neuen Musik), sondern eher schneller zu vergehen scheinen. Macht der Solist rührartige Bewegungen mit einem Becken auf einer Pauke und evoziert dazu Urschreie, mag sich mancher Besucher an einen Kannibalenkochkessel erinnert fühlen – aber jenseits solcher Assoziationen, ob gewollt oder nicht, beeindruckt das Zusammenwirken von Grubinger und dem Orchester, die bisweilen leicht schräge Düsterklänge fabrizieren, aber auch geradeaus Druck machen können. Grubinger arbeitet bisweilen auch mit bloßen Händen auf der Pauke, und nimmt er dort noch eine Fußmaschine hinzu und spielt eher geradlinig, kommen einem Solospots bestimmter Rockdrummer wie Tommy Aldridge in den Sinn. Hört man das Werk nur auf Tonkonserve, entgehen einem bestimmte Effekte wie der, dass der Solist zwischenzeitlich die Bühne verläßt, dann wiederkommt und in festgelegten Abständen jeweils ein am „Wegesrand“ stehendes Instrument anschlägt. Auch Duettpassagen mit einem Trompeter (der dafür sogar nach vorn an den Bühnenrand geht) und den Orchesterpercussionisten hat der Komponist eingeplant, und die Beteiligten inclusive Dirigent Andrés Orozco-Estrada ernten für die Leipziger Erstaufführung des 2013 in Monte Carlo uraufgeführten und Grubinger gewidmeten Werkes enorm viel Applaus.

Für Tan Duns The Tears of Nature – Konzert für Schlagzeug und Orchester macht sich ein fast kompletter Umbau der Schlagzeugburg notwendig, außerdem vergrößert sich das Orchester enorm. Das dreisätzige Werk, uraufgeführt 2012 in Hamburg nach der Darbietung von Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps, ergänzt selbiges Frühlingsopfer zu einem Jahreskreis, indem die drei Sätze die Titel von Sommer, Herbst und Winter tragen, allerdings zumindest indirekt jeweils von einer Naturkatastrophe inspiriert wurden, wenngleich diese nicht naturalistisch umgesetzt wird. Und auch die Quasi-Zyklierung mit dem Eötvös-Werk an diesem Abend klappt prinzipiell, freilich um den Preis eines extrem langen ersten Konzertteils.

Jeder der Sätze sieht Grubinger, dem auch dieses Werk gewidmet ist, in einer anderen Funktion. Nach dem einleitenden Steineklappern, auch im Duett mit den Orchesterpercussionisten in rascher Folge, arbeitet der Solist hauptsächlich an den Pauken und auch dort wieder gelegentlich mit bloßen Händen. Selbst eine große Orchesterlandschaft hat allerdings gegen das Paukengedonner anfangs wenig akustische Chancen, bis sich das Ohr mit zunehmender Spielzeit etwas besser auf die Lage einstellt und eine richtig finstere Wirkung, die so gar nicht zum Bild des Sommers passen mag, eintritt. Die Rückführung zum Frieden gelingt allerdings erstklassig, ein Paukensolo wird durch kleine Gongs abgelöst, und drei Orchesterschläge beenden diesen Satz.

Im Herbst erklingen tibetische Klangschalen, die ein an einen intensiven Tinnitus erinnerndes Geräusch erzeugen. Über diesen mit der Zeit völlig nervenden Background legt das Orchester zunächst ein eindringlich-spannendes Intro, und Grubinger arbeitet in diesem Satz als Marimba-Solist, sehr zart beginnend, aber später durchaus einiges an Power abrufend. Der Höhepunkt ist hier allerdings erreicht, wenn die Holzbläser ein altes chinesisches Lied intonieren und selbiges ohne die mit einem Bogen gestrichenen Klangschalen auskommt, dafür geschmackvoll mit Glockenschlägen ausstaffiert wird.

Der attacca anschließende Winter-Satz sieht den Solisten nicht an ein Instrument gebunden, sondern ähnlich wie im Eötvös-Stück räumlich pendelnd. Die anfangs fast jiddisch anmutende Melodik verliert sich bald, und auch der zunächst evozierte Druck macht mehr Zurückhaltung Platz. Grubinger spielt ein Paukenduett mit dem Orchesterpauker und wetzt in seiner Instrumentenburg hin und her, immer rechtzeitig sein Ziel erreichend. Die Kombination aus einem Regenrohr in einer Hand und verschiedensten Schlagzeugen, die mit der anderen bedient werden, ergibt noch einmal einen speziellen Effekt, den der Konzertbesucher dem Mitschnitthörer voraus hat, und das musikalische Geschehen mündet in feistem Gedonner, nach dem sich tosender Applaus breitmacht. Grubinger bittet anschließend um Verständnis, keine Zugabe zu spielen – er hat dieses ihn konditionell enorm fordernde Programm an diesem Tag vormittags bereits als Schulkonzert gespielt und am nächsten Tag noch einmal Gleiches vor sich, dazu am übernächsten noch ein weiteres Konzert mit Tan Duns Werk sowie einem Schlagzeug-Concertino von Keiko Abe, und so muß er seine Kräfte einteilen, was vom Publikum natürlich mit großem Verständnis aufgenommen wird.

Die enorme Länge des ersten Konzertteils führt dazu, dass es zu Beginn des zweiten schon ungewöhnlich spät ist, was Dirigent Andrés Orozco-Estrada in einer humoristischen Ansage unterstreicht, bevor er quasi ins Gelächter des Publikums hinein überhastet den Anfang von Dmitri Schostakowitschs 5. Sinfonie d-Moll op. 47 spielen läßt. Das rächt sich: Bis das Publikum sich beruhigt hat, dauert es eine ganze Weile, und die ungeplant gelockerte Stimmung stört die Orchesterkonzentration, so dass dieser Moderato-Satz lange braucht, bevor sich allgemein wieder Souveränität breitmacht, derer es gerade hier im großen Gegrübel so dringend bedarf. Erst die weiten Streicherflächen bringen mehr Ruhe ins Geschehen, und Holz sowie Tiefstreicher erreichen danach bereits beachtliche Trübsalgrade. Die Blechchoräle gelingen recht bedrohlich, der Marsch hat eine eindringliche Wirkung, und der Dirigent unterstreicht sein Händchen für die Gestaltung vor allem in den teils enorm zähen düsteren Passagen. Die spätere Idylle hat hier (was selten bei Schostakowitsch ist) mal keinen doppelten Boden, nur leider gelingt das Duett aus Flöte und Horn in letzterem nicht mit der gewohnten traumwandlerischen Sicherheit. Dafür legen alle Beteiligten viel Ruhe in den Satzschluß und bekommen eine enorme Spannung hin.

Das zweitplazierte Allegretto beläßt der aus Kolumbien stammende, aber schon länger in Wien ansässige Dirigent tempomäßig im eher übersichtlichen Bereich, und das Gesäge der Tiefstreicher entfaltet einiges an Intensität. Ein paar Prozent an Souveränität fehlen dem neuen Konzertmeister in seinen Solopassagen hier noch (er ist erst zu Saisonbeginn ins Orchester gekommen), dafür überzeugen die vielen kammermusikalisch angehauchten Passagen dieses Satzes, der mit einem knappen, aber markanten Schluß endet, umso mehr.

Das Largo an dritter Satzposition bietet lange zurückhaltende, fast (aber programmgemäß eben nur fast) schön zu nennende Streicherflächen, deren Weite immer mehr zunimmt und Orozco-Estrada abermals willkommene Gelegenheiten zum Dynamikaufbau bietet. Im Gegensatz zu den vergangenen Sätzen ist die Nervosität in den Violinen diesmal im Kompositionsplan enthalten und nimmt in Richtung Satzende immer mehr zu, wobei speziell die zurückgenommenen Passagen ziemlich sinister gelingen.

Den letzten Satz läßt der Dirigent nicht ganz attacca spielen und verzichtet auch auf die maximale Kontrastwirkung, aber der Strukturwille bricht sich in Pauken und Trompeten natürlich trotzdem Bahn, zumal das gewählte Tempo recht hoch liegt. Mit dem ersten Ausbruch kratzt Orozco-Estrada schon an der Dynamikobergrenze, der Hornchoral wetzt die kleine Scharte aus dem ersten Satz locker aus, und wie die Tiefstreicher fast unauffällig Tempo machen, gehört zu den großen Momenten hier. Die Schlußsteigerung läßt der Dirigent weit unten beginnen und verschafft sich dadurch eine breite Amplitude, auch ohne hier nochmals an der Obergrenze zu kratzen – er legt mehr Wert auf den monotonen Charakter des scheinbaren Jubelfinales, und die Betonung dieses Aspektes gelingt ihm und dem Orchester ausgezeichnet. Sofortige Bravi belohnen die Mitwirkenden, aber aufgrund der enorm späten Stunde setzt auch die Abwanderungsbewegung rasch ein, und es bleibt bei zwei Vorhängen, obwohl rein musikalisch mehr gerechtfertigt gewesen wären.


Roland Ludwig



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