Musik an sich


Editorial

Gestern noch 2015, heute schon 2016.

…und erneut mag so manche/r die Feststellung getroffen haben, dass die Zeit so schnell vergeht, ist doch schon wieder ein Jahr rasch verstrichen. Doch warum ist das so? Mit Sicherheit hat sich die Geschwindigkeit der Zeit nicht verändert. Vielleicht geht es auch nur älteren Personen so, dass sie dieses Gefühl haben. Doch ich denke nicht, höre ich dieses auch sehr oft von jungen Kolleginnen und Kollegen und Anderen. Ja, die Zeit scheint zu rasen. Fehlt uns die Zeit zur Muße? Haben wir keine Zeit mehr, innezuhalten?

Nun, wir leben in einer Gesellschaft, in der scheinbar alles schneller funktionieren muss. Der Internetzugang muss schneller sein, die Rotphase an der Ampel dauert schon wieder viel zu lang, im Supermarkt sind offenbar immer zu wenig Kassen geöffnet, ja, es geht oft einfach nicht schnell genug. So scheinen wir von einem ständigen Sturm umgeben zu sein, der an den Nerven zerrt, der uns schnelles Handeln abverlangt, uns kaum Raum zum Atmen gibt. Ist es angesichts dessen noch verwunderlich, dass die Zeit schon wieder schneller vergangen ist. Diese Beschleunigung ist doch hausgemacht, wir Menschen sind selbst verantwortlich dafür. Doch kaum jemand ist bereit, zurück zu rudern, auch unter Berücksichtigung persönlichen Verzichts. Dabei wäre eine Entschleunigung sicher wichtig, wichtig, um sich auf wesentliche Dinge des Lebens zu konzentrieren, auf den Augenblick, den Moment.

Und so ist es auch mit Musik, „Musik an sich“, sozusagen. Viele Musiker beklagen, dass es nicht mitunter nicht mehr lohnt, überhaupt noch CDs zu veröffentlichen; Streaming und Downloads, das geht einfach schneller für Verbraucher. Einzelne Songs, die ganz schnell verbraucht werden, ganz egal, welche Menschen hinter diesen Produkten stehen. Außer an Stars, teilweise künstlich erzeugten, die ständig präsentiert werden, besteht immer weniger Interesse an Musikern und Musik allgemein. Wozu sich noch die Zeit nehmen, ein Booklet in Ruhe durchzulesen, während die Platte läuft? Stets habe ich es genossen, noch zu Zeiten der LP, eine gemütliche Position einzunehmen, möglichst noch mit Tee und Gebäck, und dann die Einheit von Musik und Text und Hintergrundinformationen als Ganzes zu verinnerlichen. Die einzige Unruhe bestand darin, die Platte einmal zu wechseln.

Ein solcher und dazu weitere Momente der Ruhe und Konzentration auf wesentliche Inhalte, ohne gleichzeitig an mehrere Dinge zu denken oder an Vergangenes oder Zukünftiges, das zusammen mag dazu führen, dass sich die Uhren wieder ein wenig langsamer drehen. Und dann wird man auch entdecken, dass es Musik abseits des Mainstreams gibt, abseits dessen, was uns ständig aufgezwungen wird durch oft allzu häufige Präsenz einiger Künstler in den Medien, dann wird man bemerken, dass es Musik gibt, die einen viel längeren Brennwert hat als vieles von dem, was schnell verpufft, verpufft darum, weil es keine Fülle und Dichte aufweist, und keine wirklich relevanten Inhalte, aber durch diese Oberflächlichkeit auch schnell erreichbar ist, dafür hohl, verdummend und massenkompatibel wirkt. Beispiele in Gesellschaft und Politik haben das in der Vergangenheit oft genug gezeigt und zeigen es noch heute. Und so spiegeln Musik und Musikgeschmack auch oft unsere Gesellschaft wider. Und angesichts dessen, was sich in den Charts herumtreibt, bekomme ich arge Bedenken und Unwohlsein überfällt mich. Denn gleichzeitig unterstützt dieses Verhalten auch genau das, womit ich dieses Editorial startete, mit der Beschleunigung der Zeit, mit dem Gefühl, überrannt zu werden.

Zeit genommen haben sich z.B. ein paar Beatles-Fans. Sie haben einzelne Stücke oder das Gesamtwerk der Liverpooler Legende auf sich wirken lassen und sich davon zu Kurzgeschichten inspirieren lassen. Nachzulesen in der Anthologie Weil ich John Lennon bin… .

Zeit genommen hat sich auch Mick Box für seine Band Uriah Heep - und zwar bislang genau 46 Jahre. Wie lebendig der im Dezember 1969 geborene Rock-Dinosaurier heute noch (bzw. wieder) ist, davon hat sich Norbert in Neuruppin überzeugen lassen.

Und Zeit genommen haben sich Ancient Prophecy. In MAS-Ausgabe Nummer 4 hatte Norbert im Jahre 2001 ihr Demo Days of Doom vorgestellt. 14(!) Jahre später meldete sich Schlagzeuger Lynn André Neißner erneut bei ihm, um uns das endlich erschienene Debüt Pounded by our Sin zur Review zu überlassen.

Nehmen wir uns also die Zeit, uns den vielen Rezensionen zu widmen, mit denen auch in Ausgabe 174 der MAS neue (und nicht ganz so neue) Alben vorgestellt werden. Vielleicht erhalten wir so Anregungen, uns die eine oder andere Platte in Ruhe und Beschaulichkeit zu Gemüte zu führen. Wenn man sich die Zeit nimmt und genau hinschaut, wird man sicher viele Platten entdecken, die von verschiedenen Rezensenten mit hoher positiver Bewertung bedacht wurden. Und wenn es jeweils auch eine subjektive Meinung ist, sollte man es zum Anlass nehmen, sich bei Interesse einmal selbst ein Urteil zu bilden.

In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen, Lesern, den Mitarbeitern, den Künstlern, die unermüdlich daran festhalten, was sie uns mitteilen möchten, und den Promotern dafür, dass wir stets mit Nahrung versorgt werden, ein angenehmes neues Jahr, ein schönes und gesundes 2016!

Wolfgang Giese