Musik an sich


Artikel
THE LIVING – klassischer Progressive Rock oder Progressive Rock mit klassischen Einflüssen?




Info
Gesprächspartner: The Living

Zeit: 10.12.2009

Interview: E-Mail

Stil: Progressive Rock

Internet:
http://www.myspace.com/lifebelongstotheliving

Die 2006 gegründeten The Living legten kürzlich mit Bedd Tracks eine ganz starke zweite EP in Eigenregie vor. Der epische Neo-Classical World Rock der Band besitzt starke klassische Einflüsse, der durch den Einsatz von Geige noch verstärkt wird. Grund genug sich näher mit der sympathischen Band zu befassen und mit Bandkopf, Songschreiber, Sänger und Keyboarder Mike Bell [MB] und Geigenvirtuosin Elyse Jacobson [EJ] ein Interview zu führen.

MAS:
Hallo Elyse und Mike, ihr seid eine noch junge Band und in Deutschland bisher nicht sehr bekannt. Könnt ihr zunächst etwas über eure musikalische Karriere und die Formierung von The Living erzählen?

MB:
Das Konzept zu The Living habe ich in einer Zeit entwickelt, als ich musikalisch auf verschiedenen Hochzeiten tanzte: ich studierte klassisches Piano und Avantgarde-Komposition an der Universität, spielte Schlagzeug und sang in einer Prog-Rock Band und in einer Gypsy-Punk Band und war Frontmann in einer Glam-Metal Band. Ich wollte die ultimative Band zusammenstellen, die die besten Elemente aller meiner Einflüsse und Fähigkeiten beinhalten würde.
Es war ziemlich schwierig, die richtigen Mitspieler zu finden – Rockmusikern fehlt in der Regel die Präzision und die Dynamik, die für diese Musik benötigt wird und klassische Spieler haben manchmal eine etwas snobistische Einstellung gegenüber anderen Stilen. Glücklicherweise habe ich ein paar großartige Mitspieler gefunden die sehr offen für Neues sind.

EJ:
Ich habe Mike 2006 getroffen als wir einen gemeinsamen Kurs an der UBC School of Music in Vancouver, Kanada belegten. Ich habe auf einen künstlerischen Abschluss als Geigenspielerin hingearbeitet. Seit ich fünf war hatte ich klassischen Geigenunterricht, habe aber immer wieder auch andere Musikstile ausprobiert und in verschiedenen Bands gespielt, was mir sehr viel Spaß gemacht hat. Als wir uns trafen, war ich gerade auf der Suche nach einem langfristigeren Projekt – etwas, an das ich wirklich glauben konnte und von dem ich wirklich ein Teil sein wollte. Ich ging dann mehrere Monate auf ein Kreuzfahrtschiff das zwischen Alaska und Asien kreuzte, um dort zu spielen und als ich zurückkam, war ich in der Band. Es war zwar damals noch eine total andere Band, aber die musikalische Vision war schon ziemlich die gleiche. Heute ist aber alles noch viel zielgerichteter.

MAS:
Was war der Grund für Euch, nach Deutschland umzuziehen?

MB:
Wir wollten immer schon international auf Tour gehen. Meiner Meinung nach ist Kanada der schlechteste Platz in der Welt, um zu touren. Es ist ein großes Land – man benötigt meist etwa 8 Stunden, um von einer größeren Stadt in die nächste zu kommen (und selbst die großen Städte sind recht klein). In den Vereinigten Staaten ist das besser, aber ihre Bestimmungen machen es sehr schwierig für Ausländer hier zu touren oder zu arbeiten. Deutschland ist dagegen sehr ausländerfreundlich und die offenen Grenzen der EU machen es einfach, hier zu touren. Außerdem gibt es hier eine reiche musikalische Geschichte – die Menschen sind hier viel stärker mit klassischer Musik verbunden, was es (hoffentlich) zu einem guten Ort für solch eklektische Musik wie unsere macht. Außerdem war es auch sehr aufregend und inspirierend etwas zu verändern und einen anderen Weg zu gehen, als die meisten kanadischen Bands.

EJ:
Um ehrlich zu sein, wir waren kurz davor nach San Francisco zu ziehen (ich bin Amerikanerin, so dass es für mich nicht so schwierig gewesen wäre, dort Arbeit zu finden) … aber dann dachten wir: „Wenn wir ohnehin umziehen, warum sollen wir dann nicht einen noch größeren Schritt wagen und nach Europa gehen?“ Unsere Musik schien dort gut anzukommen, und Berlin hat eine riesige kulturelle Szene. Es war ein großer Schritt, aber auch ein großes Abenteuer.

MAS:
Könnt ihr davon leben nur Musik zu machen oder habt ihr auch andere Jobs und Musik ist euer Hobby?

MB:
In Vancouver konnten wir von unseren Auftritten (als The Living und auch viele andere Auftritte) und vom Unterrichten leben, aber als wir hierher kamen, mussten wir von vorne beginnen. Unsere Freunde dachten, wir wären verrückt. Kurz nachdem wir hier ankamen bekam ich einen Job als Gitarren- und Klavierlehrer an einer internationalen privaten Schule hier in Berlin. Das ganze Geld das ich verdiene stecke ich in The Living, so dass wir hoffentlich eines Tages von unseren Auftritten und Verkäufen leben können…

EJ:
Um ganz ehrlich zu sein war Musik nie nur ein Hobby für mich. Zuhause habe ich den letzten Jahren als freischaffende Violinistin und Geigenlehrerin gearbeitet und ich liebe meinen Job. Dennoch, wie Mike schon sagte, muss man wieder von vorne beginnen, wenn man in eine neue Stadt zieht und eigentlich niemanden kennt. Ich habe ein paar private Geigenschüler und konnte in den letzten Monaten hier in Berlin ein paar Auftritte absolvieren, aber ich muss auch andere Jobs annehmen (z.B. korrigiere und überarbeite ich für andere Artikel und sonstige Veröffentlichungen oder bin Model für einen künstlerischen Fotografen), um die Miete zu bezahlen.

MAS:
Wer sind die Mitglieder der Band uns was ist Euer musikalischer Background?

EJ:
Nun, neben Mike und mir sind noch drei weitere fantastische Mitglieder in der Band, die wir hier in Berlin nach einer lokalen Audition ausgewählt haben. Tom Geldschläger ist unser Gitarrist – er kommt ursprünglich aus Greifswald, spielt in verschiedenen Metal- und Progressive Bands, schreibt und produziert und er spielt auch eine fretless (bundlose) Gitarre, neben vielen anderen Instrumenten. Am Bass spielt Martin Rose, der aus Solingen stammt. Er besitzt ein Diplom in Bass Gitarre vom Amsterdamer Konservatorium und ist oft auf Tour mit Bands aus Europa und den U.S.A. Am Schlagzeug haben wir Finlay Panter aus Manchester, UK, der als Kind klassische Violine spielte und in einem geistlichen Chor sang, bevor er im Alter von 8 unbedingt Schlagzeug spielen wollte. Er besitzt ein Diplom in Percussion vom Royal Northern College of Music und besitzt viele musikalische Einflüsse aus dem Jazz- und Rock-Drumming. Das alles kratzt gerade mal an der Oberfläche ihrer Talente und Erfahrungen – wir sind froh mit solchen wirklich fantastischen Musikern zusammenarbeiten zu können.

MAS:
Sind alle Bandmitglieder klassisch ausgebildet? Wenn ja, wie entstand dann die Idee Progressive Rock zu spielen

EJ:
Wir alle haben zumindest eine kleine klassische Ausbildung (einige von uns ja auch ziemlich viel) und vier von uns besitzen ein Diplom in Musik. Lustigerweise haben wir The Living nicht begonnen, um speziell Progressive Rock zu spielen; wir haben erst später festgestellt, dass wir am besten in dieses Genre passen. Ich denke, dass viele Prog-Rock Musiker einen starken klassischen Einfluss besitzen. Man kann das an der Kompliziertheit der Musik, der Virtuosität und den sehr dichten Harmonisierungen hören. Wir versuchen aber auch, ein wenig vom guten alten Pop-Rock Feeling mit einzubringen – wer mag es denn nicht, wenn es einen schönen mitsingbaren Refrain gibt?

MAS:
Welche Bands sind Eure wichtigsten Einflüsse? In Eurem Promo-Package habt ihr geschrieben, dass ihr wie Mr. Bungle, The Mars Volta, Muse oder das Mahavishnu Orchestra klingt. Nun, ich denke, da gibt es noch viel mehr Einflüsse und Euer Sound ist ziemlich eigenständig. Wie würdet ihr Eure Musik selbst beschreiben?

MB:
Danke! The Mars Volta, Queen und Mr. Bungle sind große Einflüsse für mich, aber man kann so viel daraus lernen, wenn man auch klassische Komponisten und nicht nur Bands anhört. Stravinsky, Ravel, Glass, Reich, Piazzolla, Chopin, Liszt und viele andere sind alle ein wichtiger Einfluss für mich. „Epic Neo-Classical World Rock“ ist die aktuellste (und kürzeste) Bezeichnung die wir haben, um unsere Musik zu beschreiben.

MAS:
Gibt es Pläne für eine komplette CD in der nächsten Zukunft?

MB:
Vielleicht. Wir planen gerade im Sommer 2010 mit neuen Aufnahmen zu beginnen.

MAS:
Euer Line-Up ist mit Elyse Jacobson an der Geige nicht gerade üblich für Rockmusik. Was denkt ihr über den Sound und die Spielmöglichkeiten dieses Instrumentes in der Rockmusik?

MB:
Meiner Meinung nach sind alle Streichinstrumente (Violine, Viola, Cello) sehr variabel. Sie können singen wie eine menschliche Stimme, Akkorde spielen und Effekte wie eine Gitarre benutzen, als Flächen- oder Background-Instrument wie eine Synthesizer benutzt werden oder sie können perkussiv eingesetzt werden (z.B. beim Pizzicato oder Ricochet/Saltellando Spiel [der Bogen wird auf die Saiten geschlagen – Anm. des Verfassers]). Andere monophone Instrumente wie Flöte, Trompete oder Saxophon können wunderbar singend gespielt werden, aber ihnen fehlt die Variabilität, mit dem Hintergrund zu verschmelzen.

EJ:
Ich stimme dem voll zu. Ich bin hier vielleicht etwas voreingenommen, da ich ja selbst Geigerin bin, aber ich glaube, dass Streichinstrumente eigentlich in wirklich jeden Musikstil passen. Ich habe mit Künstlern aus den verschiedensten Genres gespielt und aufgenommen, vom Classic-Rock bis hin zur Zigeunermusik, Mariachi, Hip-Hop oder Hardcore Metal und vielen anderen. Und ich habe auch schon Musik aus eigentlich jedem Genre gehört, in der in irgendeiner Form Streichinstrumente verwendet wurde. Die Leute scheinen oft überrascht zu sein, wenn sie eine Geige in der Rockmusik hören, aber so richtig verstehen kann ich das nicht – man denke nur mal an The Arcade Fire, die Dave Matthews Band, Kansas, The Beatles, Led Zeppelin und viele andere – sie alle haben Geigen in großem Maße verwendet! Und sicherlich hat jeder schon mal von Apocalyptica gehört, eine Metal Band aus vier Cellos und einem Drummer. Auf jeden Fall denke ich, dass die Geige besonders gut zu The Living passt, weil unsere Musik einen stark klassischen Einfluss besitzt.

MAS:
Mike, Du hast alle Songs von ‚Bedd Tracks’ geschrieben. Gibt es noch andere Songwriter in der Band und wie wichtig sind die Texte für Dich?

MB:
Für mich kommt immer zuerst die Musik und dann erst die Texte aber es ist wichtig, dass die Songs eine Bedeutung transportieren, vor allem wenn man etwas Interessantes mit einer geschickten Metapher ausdrücken kann, so dass es auf mehreren Ebenen interpretiert werden kann, wie bei Gedichten. Ich mag absolut keine Texte, die vor Klischees triefen oder vorhersagbar sind, aber ich denke, dass eine tiefere Bedeutung nicht unbedingt notwendig ist. Wenn die Musik mit zufälligen Silben und verschiedenen Gesangssounds gut klingt, warum nicht?

EJ:
Um die Frage zu den Songwritern zu beantworten: Mike war, vereinfacht gesagt, schon immer der Kopf der Band. Die anderen Bandmitglieder (frühere und die heutigen) haben sich zwar immer wieder eingebracht und geholfen, die Songs weiterzuentwickeln, aber die Grundideen stammten immer von ihm.

MAS:
Eure Arrangements sind wirklich sehr beeindruckend. Es handelt sich hier um wirkliche progressive Musik. Dennoch ist die Musik auch sehr eingängig und vor allem ‚Eye of the Day’ wäre eine tolle Single. Arrangiert ihr die Songs zusammen als Band?

MB:
Ich arrangiere das meiste weil ich es liebe, für die einmalige Instrumentierung der Band zu schreiben. In einem Trio kann es für die Bandmitglieder einfach sein, ihre eigenen Instrumentalparts zu schreiben aber je mehr Leute in einer Band sind, umso schwieriger wird es für den Einzelnen das zu spielen, was er gerade will. Hier muss man alles gut ausarbeiten. Stell Dir nur mal vor was passieren würde, wenn jeder Musiker in einem Orchester versuchen würde, seinen eigenen Part zu schreiben. Dennoch finde ich es schön, wenn die Bandmitglieder ihre eigenen Ideen und Soli mit einbringen.

MAS:
Eure Songs sind recht kurz für das Genre Progressive Rock, wie manche wohl sagen würden. Habt ihr auch irgendwelche längeren Stücke?

MB:
Unsere erste EP hatte ein paar 6-Minuten Songs und sogar einen mit 8 Minuten. Für die aktuelle EP wollten wir etwas anderes ausprobieren. Vielleicht haben wir ja auf der nächsten CD einen 15-Minuten Song und einige mit nur 1 Minute? Es ist manchmal schon ganz gut, wenn man kein Plattenlabel hat, das einem sagt, was man tun soll…

MAS:
Werdet ihr in Deutschland auf Tour gehen? Ich habe gehört, dass ihr mit Melanie Dekker unterwegs sein werdet, stimmt das? Werdet ihr als Backing Band mit ihr touren oder zusammen in einem Package mit ihr als The Living?

EJ:
Mike und ich werden mit Melanie Dekker (als ihre Backing Band) in Deutschland, Österreich und den Niederlanden im März und April 2010 touren aber leider können wir den Rest von The Living nicht mitnehmen. Dennoch, wir sind gerade dabei für Februar, Mai und auch für den Sommer Gigs in Deutschland zu buchen. Alle Konzerte werden bald auf unserer MySpace Seite zu finden sein. (myspace.com/lifebelongstotheliving)

MAS:
Wie sind bisher die Reaktionen auf die Veröffentlichung von „Bedd Tracks“? Seid ihr zufrieden und glücklich mit diesen Reaktionen?

MB:
Wir haben die CD an ein einige Rezensenten geschickt und im Allgemeinen sind die Leute fasziniert und verlangen nach mehr! Das ist großartig, denn das gibt den Leuten die Möglichkeit, einen kurzen guten Eindruck von uns zu gewinnen, bevor ein Full-length Album erscheinen wird…

EJ:
Ich bin total überwältigt von den Reaktionen der Leute auf Bedd Tracks. Die EP wird sogar noch besser aufgenommen, als unsere erste EP (The Sin). Es ist ein unglaubliches Gefühl wenn man so hart an etwas arbeitet und dann dieses großartige Feedback von wildfremden Leuten erhält.

MAS:
Wollt ihr unseren Lesern noch irgendetwas mitteilen?

EJ:
In den Worten des großen Deutschen Johann Wolfgang von Goethe (aus Wilhelm Meisters Wanderjahre): „Das Leben gehört den Lebendigen an, und wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein.“

MB:
Meine Worte.


Ingo Andruschkewitsch



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