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Artikel

Mitja III: Prokofjew, Schostakowitsch und Rachmaninoff mit der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz

Info

Künstler: Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz

Zeit: 07.12.2017

Ort: Chemnitz, Stadthalle, Großer Saal

Fotograf: Roger & Renate Rössing (Deutsche Fotothek)

Internet:
http://www.theater-chemnitz.de

Knapp vier Wochen zuvor hatte das MDR Sinfonieorchester Prokofjew und Schostakowitsch in einem Konzertprogramm vereinigt, die Chemnitzer Robert-Schumann-Philharmonie addiert dazu nun noch Rachmaninoff in einem leicht ungewöhnlich strukturierten Programm: Das Solokonzert erklingt erst nach der Pause, davor werden zwei Suiten aus Opern respektive Operetten gespielt. Das Publikum hat damit kein Problem, im Gegenteil: Von den notorisch ausverkauften Symphonic-Klezmer-Programmen mal abgesehen, ist das Konzert dieses Abends das bestbesuchte, das der Rezensent bei den Chemnitzern in letzter Zeit gesehen hat. Zugleich stellt dieses Konzert das dritte der ungewöhnlichen „Mitja“-Schostakowitsch-„Reihe“ des Rezensenten im Spätherbst 2017 dar. Hier geht’s zu den Rezensionen zu Mitja I, Mitja II und Mitja IV.

Sergej Prokofjews Oper Die Liebe zu den drei Orangen dürfte zu den meistgespielten Opern des 20. Jahrhunderts zählen. 1921 in Chicago uraufgeführt und mit enormen Vorschußlorbeeren bedacht, rechtfertigte das Werk selbige durchaus, und der Komponist, auf der Erfolgswelle reitend, stellte sechs Stücke aus der Oper zu einer Orchestersuite zusammen, die 1925 in Paris aus der Taufe gehoben wurde. Ebenjene steht an diesem Abend am Beginn des Programms und macht schnell Laune: „Die Lächerlichen“ heißt der erste Satz, wechselt von einer wilden Einleitung in groovige Parts, die manchen Hörer an den Tanz einer gewissen Zuckerfee erinnern dürften, und stellt mit seinem Wendungsreichtum fast eine kleine Suite innerhalb der Suite dar. Gelingt dieser Satz dem unter seinem neuen Chefdirigenten Guillermo García Calvo musizierenden Orchester noch exzellent, so schleicht sich in die Einleitung des zweiten, „Der Zauberer Tschelio und Fata Morgana spielen Karten“, etwas zuviel Unruhe ein, was der Spanier aber schnell wieder im Griff hat. Mit gut ausgereizter Dynamik läßt er die plastischen Bilder, die hier noch deutlicher ausgeprägt sind als in anderen Teilen der Oper, am Hörer vorüberziehen. Der wird dann im „Marsch“ an Position 3 vielleicht ein Deja-vu erlebt haben, auch wenn ihm das restliche Material möglicherweise nicht geläufig war: Selbiges Stück wurde im Musikunterricht an DDR-Schulen behandelt (Klasse 4). Die knackige Steigerung trübt den ironischen Eindruck nicht, auch wenn der längst nicht so auffällig rüberkommt wie etwa in Mauricio Kagels Zehn Märschen, um den Sieg zu verfehlen.
Das „Scherzo“ an Position 4 ist noch kleinteiliger strukturiert als der Marsch, aber das Orchester meistert das Hin-und-Herfliegen problemlos. Ob freilich in „Der Prinz und die Prinzessin“, immerhin ein hochromantisches Stück, der Eindruck, die offensichtlich die beiden Protagonisten zeichnenden Stimmführer der ersten Violinen respektive der Bratschen verhielten sich wie Fremdkörper sowohl zueinander als auch in Relation zur Orchestergrundierung, beabsichtigt war, darf zumindest angezweifelt werden. Die Huster während des Stücks hätte es trotzdem nicht gebraucht, aber wenigstens steht die Spannung zum Schluß und bildet einen willkommenen Kontrast zum wild herausfahrenden sechsten Satz „Die Flucht“, das dem Dirigenten wieder einen recht breiten Raum für Dynamikgestaltung läßt, den dieser gern ausfüllt. Das Zentralbreak sitzt perfekt, der Bombast bleibt von etwaigen Grenzen weit entfernt, die Bläser vor dem kurzen Schlußspurt wirken eher entrückt, und es überrascht, daß der Applaus eher überschaubar bleibt.

Dmitri Schostakowitsch hatte mit seinen Opern, speziell mit Lady Macbeth von Mzensk, den letzten Anlaß für Stalins Künstlerverfolgung ab 1936 gegeben, war vom Machthaber aber aus eher irrationalen Gründen am Leben gelassen worden. Fortan gelangte außer der lange nach Stalins Tod angefertigten Neufassung der Lady Macbeth von Mzensk unter dem Alternativtitel Katerina Ismailowa, die trotz nur minimaler Änderungen nun von der offiziellen sowjetischen Kulturbürokratie als Meisterwerk gefeiert wurde, kein weiteres Opernprojekt mehr zur Vollendung, wohl aber eine Operette – ein Genre, das man von dem Komponisten nicht wirklich erwartet hatte, obwohl er ihm nicht ganz fern stand: In den späten 1930er Jahren hatte er eine neue Instrumentation für Johann Strauß‘Wiener Blut angefertigt, und schon in den frühen 1930ern soll er eine Operette namens Neger geplant haben (wie würde man deren Titel in der heutigen politisch überkorrekten Zeit wohl einschätzen?). Trotzdem kam Moskau, Tscherjomuschki anno 1958/59 ziemlich unerwartet. Eckart Kröplin widmet dieser Operette in seinem noch zu DDR-Zeiten erschienenen Buch Frühe sowjetische Oper – Schostakowitsch, Prokofjew ganze zwei Sätze und kommt damit um eine Einschätzung der Entstehungsumstände herum. Gerüchte besagen, es habe sich um einen Quasi-Parteiauftrag gehandelt, um das sowjetische Wohnungsbauprogramm zu preisen – Tscherjomuschki ist ein in Chruschtschows Zeiten hochgezogenes Neubauviertel am Moskauer Stadtrand von der Größe einer Trabantenstadt. Wenn dem so ist, hat der Komponist (bzw. die Texterfraktion, die aus den Satirikern Wladimir Mass und Michail Tscherwinski besteht) die Gelegenheit genutzt, wieder einmal einen seiner berühmten doppelten Böden einzubauen: Die Operette erzählt, wie ein korrupter Parteifunktionär zwei Neubauwohnungen für sich beansprucht, aber vom Volk daran gehindert wird – korrupte Parteifunktionäre waren in der offiziellen sowjetischen Welt aber nicht existent. Die Orchestersuite aus vier Sätzen stammt in diesem Fall allerdings nicht vom Komponisten selbst, sondern von Andrew Cornall.

Was an musikalischer Ironie im Stück steckt, erkennt der Hörer schnell im „Eine Fahrt durch Moskau“ betitelten ersten Satz, der über Offbeats ein derartiges Tempo vorlegt, wie es im Stadtverkehr Moskaus wohl zu keiner Zeit zu schaffen war und ist. Von den Bläsern werden hier große konditionelle Leistungen gefordert und an diesem Abend auch erbracht. Der zweitpositionierte „Walzer“ entwickelt gleichfalls ein recht zügiges Tempo, allerdings nicht ganz so zügig wie sein weit bekannterer Bruder in dem, was man bisher immer für die Jazzsuite Nr. 2 zu halten pflegte, der allerdings auch in der Themenverwandtschaft immer mal von drüben winkt. Hier hingegen streut der Komponist einige ätherisch-zurückhaltende Passagen ein, auch die Tempowechseldichte ist überraschend hoch, und die Beschleunigungen nach dem Orchestertutti dürften auch den zuverlässigsten Rhythmiker tänzerisch aus dem Takt bringen.

Überhaupt ist Geschwindigkeit in dieser Suite keine Hexerei, denn der zweigeteilte Tanzsatz an Position 3 hebt mit einer sehr leichtfüßigen und flotten „Polka“ an, in der die Tuba gekonnt Schweinchen spielen darf, bevor das „Galopp“-Tempo ganz unten beginnt (gleich zweimal übrigens) und sich dann zur Raserei steigert. Die muß man im vollen Orchester erstmal so sauber hinbekommen – die Chemnitzer und ihr Spanier am Pult schaffen das an diesem Abend, und auch die halsbrecherischsten Breaks sitzen. Der Quasi-Schlußeffekt läßt einige Besucher spontan in Applaus ausbrechen, aber ein Satz kommt noch, „Ballett“ überschrieben und zunächst eher kammermusikalisch angehaucht, wenn Solohorn und -violine dialogisieren. Dann entwickelt sich ein flüssiger Dreiertakt, der aber diversen Variationen unterworfen wird und irgendwann den Eindruck erweckt, als hätte Strauß (nicht Strauss!) den erwähnten Nicht-Jazzsuiten-Walzer geschrieben, der auch hier motivisch nochmal durchscheint. Ein knapper Speedschluß hängt an, und dann darf der Applaus wirklich losbrechen, was er auch tut.

Sergej Rachmaninoffs Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll op. 30 kann man durchaus an der im heutigen Orchesterbetrieb angestammten Position eines Solokonzerts, also vor der Pause spielen (der Rezensent hat das knapp elf Monate zuvor erst beim Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera gehört, wo im zweiten Teil dann Sergej Tanejews 4. Sinfonie stand), aber aufgrund seiner Länge hat sich auch die Alternative, es an den üblicherweise einer Sinfonie vorbehaltenen Platz nach der Pause zu setzen, eingebürgert, wie es an diesem Abend geschieht. Nun sind die akustischen Verhältnisse im Altenburger Theater und im Großen Saal der Chemnitzer Stadthalle völlig verschieden: Der eher kleine Theatersaal sorgt für einen sehr direkten Klangeindruck, und da der Rezensent damals in der Nähe des Klaviers und frontal gegenüber selbigem in Reihe 6 saß, hatte er zumeist eine hohe Dosis Klavier im Ohr. Die mit schrägen Seitenwänden ausgestattete Bühne, was sich im Zuschauerraum in der Form noch fortsetzt, zieht den Klang in Chemnitz dagegen sehr in die Breite, was einerseits die Entwicklung von Klangwuchtmaxima erschwert und andererseits speziell an diesem Abend dafür sorgt, daß man in den lauteren Parts die Ohren ziemlich spitzen muß, um Boris Giltburgs Klavierspiel angemessen wahrnehmen zu können. Das lohnt sich freilich, denn der kleine Pianist liefert, soweit man das beurteilen kann, eine starke Leistung ab, die aufgrund des beschriebenen Phänomens immer dann am besten nachvollziehbar ist, wenn man sich im Piano- bis Mezzoforte-Bereich bewegt. Was sowohl Pianist als auch Orchester im ruhigen Bereich an diesem Abend erschaffen können, läßt die wunderbar weiche Einleitung des „Allegro ma non tanto“ überschriebenen Eröffnungssatzes bereits erahnen. Und so geht es auch weiter, mit einem zauberhaften Piano-Fagott-Duett etwa, was etwas für die nach oben hin schwierige Gesamtdynamiksituation entschädigt, denn die Tutti sind nicht gleichermaßen mit viel Klangwucht und hörbarem Klavier hinzubekommen, und der Dirigent muß einen Mittelweg zu steuern versuchen, was ihm auch zumeist gelingt. Daß die Erkälteten im Publikum sowohl den Übergang in die Kadenz des ersten Satzes als auch deren Ausgang stimmungsseitig verhageln, dafür kann auf der Bühne natürlich niemand etwas, ebensowenig dafür, daß am Satzende das Gefühl zurückbleibt, der Komponist habe vielleicht doch noch nicht alles gesagt.

Satz 2, „Intermezzo. Adagio“ überschrieben, lebt naturgemäß von seinen ruhigen Passagen und überzeugt dort auf fast ganzer Linie. Interessanterweise bringen sowohl die Bläser als auch der Pianist etwas mehr Härte ins Geschehen, als man erwarten würde, während der Terminus Adagio hier nicht mit den existentiell-quälenden Sätzen gleichen Namens von Bruckner oder gar Schostakowitsch gleichzusetzen ist. Statt dessen entfaltet sich doch einiges an Dramatik, vom Dirigenten klug geformt und nur im großen Tempoausbruch etwas indifferent bleibend, was der exzellente Blechchoral danach aber locker wettmacht.

Das „Alla-breve-Finale“ spielt Giltburg so attacca, wie es nicht mehr dichter angehängt geht, nämlich noch in die Streicherwelt des 2. Satzes hinein. Das sorgt für Markanz und Druck, die aber zunächst punktuell bleiben, denn auch hier hat Rachmaninoff einiges an Stimmungs- und Tempowechseln vorgesehen und erinnert in den düsteren Klangwelten fast an Prokofjew. Wie Giltburg hier allerdings trotz allen sportlichen Gehämmers die Klavierläufe perlen läßt, das ist große Kunst, und daß die Stärken dieses Abends in den zurückgenommenen Passagen liegen, ist ja bereits angeklungen. Zwar sitzt der Klavier-Flöte-Dialog nicht ganz paßgenau, der Klavier-Horn-Dialog dafür aber umso besser. Vor der finalen Tempoanziehung entwickelt der Dirigent nochmal einiges an Spannung und dann große Breite mit wirkungsvoll gesetzten Abstufungen, der Schluß gerät zackig, aber nicht zu zackig, und die ersten Bravorufe lassen natürlich nicht lange auf sich warten. Gleich zwei Zugaben läßt sich Giltburg noch entlocken: die 1886 entstandene Etüde cis-Moll op. 2 Nr. 1 von Alexander Skrjabin (das älteste Stück des Abends, stilistisch aber weit nach vorn weisend und mit einer melancholischen Hauptmelodie ausgestattet, dazu viel Spannung im Schluß bietend) und Prokofjews „Teuflische Einflüsterung“, das letzte aus den Vier Stücken op. 4, enorm expressiv mit markanten Hämmerfiguren aus der linken Hand und einem witzigen Schluß, nach dem der Solist mit Standing Ovations gefeiert wird.

Roland Ludwig


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