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O Tod, wo ist dein Stachel nun? Sinfonieorchester und Chor der Leipziger Musikhochschule

Info

Künstler: Sinfonieorchester und Chor der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig

Zeit: 21.01.2017

Ort: Leipzig, Musikhochschule FMB, Großer Saal

Internet:
http://www.hmt-leipzig.de

Ob der Programmverantwortliche, als er Mozarts Requiem für dieses Konzert ansetzte, wohl daran gedacht hat, daß am 21. Januar 2017 der 93. Todestag Wladimir Iljitsch Uljanows anstand? Wohl eher nicht, aber so ergibt sich ein hübsches Kuriosum für den zweiten Abend – das gleiche Programm ist auch schon am Vorabend an gleicher Stelle erklungen, und beide Male darf sich die Hochschule über einen „Ausverkauft“-Status freuen.

An dieser Einrichtung kann man auch Komposition studieren, und bei passender Gelegenheit findet sich ein Werk eines Kompositionsstudenten in einem der Hochschulkonzerte wieder, so auch diesmal: Beste Özçelebi hat ein Orchesterwerk namens Kuslarin Diliyle geschrieben, und selbiges erlebt in diesen beiden Konzerten seine Uraufführung durch das Hochschulsinfonieorchester. Das Programmheft enthält keinerlei Informationen über das Werk oder seine Schöpferin, aber Dirigent Matthias Foremny gibt in seiner unnachahmlichen Infotainment-Manier vor Konzertbeginn eine Einführung. Das Werk beruht auf der Konferenz der Vögel, einem mittelalterlichen persischen Epos, in welchem sich Tausende Vögel auf den schwierigen Weg durch sieben Täler machen, um zum Nest des Vogels Simurg, den sie als ihren König ansehen, zu gelangen. Nur dreißig kommen letztlich dort an, wo man das Nest vermutet – aber selbiges ist nicht da, und da „simurg“ das persische Wort für die Zahl 30 ist, erkennen die Überlebenden, dass der Weg das Ziel war und sie zur Selbsterkenntnis geführt hat. „Die Selbsterkenntnis steht jedem frei, der sich um sie bemüht,“ faßt Foremny die Moral der literarischen Vorlage für das Stück zusammen. Nach dessen Ende freilich ist der Hörer geneigt, ein ganz anderes Stück vernommen zu haben: Okay, die Vögel sind da, sie werden von mannigfachen Instrumentengruppen symbolisiert, ohne daß freilich der Nichtornithologe irgendwelche Artbestimmungen vornehmen könnte. Aber die sieben Täler lassen sich zumindest nach einmaligem Hören kaum sinnvoll zuordnen, scheinen wenig Charakteristik aufzuweisen, und so bleibt eine Identifikation des Hörers mit dem Stück (und dem Weg!) weitgehend aus. Lange bleibt das Geschehen sowieso sehr zurückhaltend, wird allerdings auch nicht in die Fläche gezogen, sondern reiht einzelne atonale und/oder mikrotonale Elemente (bisweilen in der Tat leicht persisch gefärbt) aneinander, und auch nach dem kurzen Weckruf stellen sich schnell die Mühen der Ebene ein. Dass die aus der Türkei stammende Komponistin durchaus interessante Figuren zu erschaffen weiß, zeigen beispielsweise die durch die Violinen „wandernden“ Zupfelemente oder die wellenartige Klangstruktur im einzigen großen Tutti des Werkes. Nur kurz kommt so etwas wie Dramatik auf, dann verhallt das Cello, das Werk ist zu Ende, und man hat das unbestimmte Gefühl, dass im Gegensatz zur literarischen Vorlage die letzten 30 Vögel auch noch alle tot sind. Das Publikum spendet interessierten und für ein auch mit Erläuterung nicht leicht zugängliches Werk durchaus achtbaren Applaus.

Die Konzerte des Hochschulsinfonieorchesters sind auch in die Dirigentenausbildung an der Institution eingebunden. Dirigierstudenten erhalten regelmäßig die Gelegenheit, Werke oder Teile von ihnen „im Ernstfall“ zu leiten. Das ist auch an diesem Abend so, wobei sich diesmal zwei Studenten die 4. Sinfonie c-Moll D 417 von Franz Schubert teilen. Gaudens Bieri übernimmt die ersten beiden Sätze – und sorgt für Heiterkeit: Der Schweizer hat (falls er nicht unter Pseudonym arbeitet) namenskreative Eltern, und da seine Wiege im rätoromanischen Graubünden stand, wird der lateinische Anklang im Vornamen vielleicht kein Zufall sein. Er sieht aber auch noch aus wie eine jugendlichere Version von Jürgen Klopp und bewegt sich auf dem Pult ähnlich intensiv wie jener vor der Trainerbank, allerdings mit einer zusätzlichen gewissen Brummbär-Attitüde und der Anmutung, er würde gerade in einem großen Kessel leckerer schweizerischer Schoki rühren, und daß er sich bei der Schlussapplaus-Verbeugung beinahe auf einem der beiden vor der Bühne aufgebauten Mikrofone aufspießt, paßt irgendwie bestens ins sympathisch-chaotische Bild. Das musikalische Geschehen aber hat er weitgehend im Griff, wenngleich besonders im ersten Satz einige der Musiker wohl noch das mikrotonale Geschehen aus dem ersten Stück präsent haben. Bieri schichtet das den ersten Satz eröffnende Adagio molto zunächst recht blockartig auf, bleibt aber auch in dessen Allegro-vivace-Hauptteil recht strukturbetont, so dass – man verzeihe das Klischee – die Oberfläche tatsächlich wie eine Tafel Schokolade anmutet, die Bieri mit den großen, Bögen zu schlagen versuchenden Gesten scheinbar anrührt. Der Unterbau des Hauptteils gerät phasenweise recht donnernd, aber Bieri hält das Tempo zunächst noch am Zügel und scheint erst allmählich durchschnittlich schneller zu werden, was freilich auch eine akustische Täuschung sein kann.
Ins „Andante“ an Satzposition 2 gießt Bieri eine Extraportion Milch und macht es dadurch recht cremig, auch wenn der Übergang ins zweite Thema unter den Begriff „schön, aber holprig“ fällt. Dafür entwickelt der Dirigent in selbigem doch einigen Zug zum Tor, nachdem schon die Satzeinleitung nicht schleppend ausgefallen war, und nutzt das unauffällige, aber wirkungsvolle treibende Gesäge in den Violinen, um die Klippe der Behäbigkeit zu umschiffen zu versuchen, was ihm in den meisten Fällen auch gelingt – und die werkimmanente Verschleppung im Satzschluß gelingt allen Beteiligten dann ganz hervorragend.
Die anderen beiden Sätze dirigiert der Israeli Nathanel Bas, der fast grußlos, nur mit einer knappen Verbeugung, aufs Pult eilt, dort auswendig dirigiert und einen völlig anderen optischen Stil fährt: roboterhafte Präzision (wer erinnert sich noch an Kraftwerks Bühnenfassungen von „Wir sind die Roboter“?) gepaart mit völliger Coolness (als Student schon nach den ersten paar Takten einhändig weiter zu dirigieren und die andere Hand lässig um den rückwärtigen Handlauf des Pultes zu legen hat was). Das Menuett im dritten Satz strukturiert Bas jedenfalls auch recht blockhaft, ins Trio legt er deutlich mehr Fluß und bereitet damit gedanklich schon das Allegro-Finale vor. Dessen Einleitung wackelt bedenklich, aber die Geschwindigkeitsexplosion danach sitzt perfekt, und die dem Beinamen „Tragische“ so völlig widersprechende Tanzbarkeit durch die eben nicht auf 1 betonenden Celli läßt der Dirigent besonders intensiv herausarbeiten. Gleichmacherei aber ist seine Sache nicht: Generalpausen bleiben Generalpausen, wenn sie den Fluß auch noch so sehr unterbrechen. In puncto Dynamik läßt Bas das Orchester schon im Verlaufe des Satzes weit nach oben gehen, aber er hält sich immer noch eine kleine Reserve offen, die er dann im Satzfinale ins Gefecht führt. Klare Zeichengebung führt halt bisweilen auch dazu, dass man das bekommt, was man will. Feine Leistung!

Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem d-Moll KV 626 erklingt nach der Pause nicht in der bekannten, nach dem Tod des Komponisten durch dessen Schüler Süßmayr komplettierten Fassung, sondern in einer von mehreren zwischenzeitlich angefertigten Alternativrekonstruktionen, nämlich derjenigen, die Robert D. Levine anno 1991 zum 200. Todestag des Komponisten für Helmuth Rilling und die Bachakademie Stuttgart angefertigt hatte. Hier kommt der etwa 100köpfige Hochschulchor ins Spiel, der hinter dem Orchester Aufstellung nimmt, und am Pult steht wieder Matthias Foremny, der zunächst in den Instrumentalpassagen durch starke Hervorhebungseffekte einzelner Phrasen und ein ziemlich flottes Tempo Akzente setzt. Und sieht der Chor anfangs noch keinen akustischen Stich gegen das Orchester, so bekommt der Dirigent dieses kleine Balanceproblem sehr schnell in den Griff, und im weiteren Verlauf des Stückes ist es eher das Orchester, das sich bisweilen Gehör verschaffen muß, etwa wenn im „Dies irae“ alle förmlich um ihr Leben singen und spielen. Aber auch viele der Einzelleistungen wissen zu überzeugen, etwa die quasi kammermusikalische Eleganz, die das Orchester im „Recordare“ an den Tag legt, oder das wirkungsvoll mit dem vorausgegangenen Orchestergesäge kontrastierende ätherische „voca me cum benedictis“ der Chorfrauenstimmen im Confutatis. Und der „Amen“-Schluß des „Lacrymosa“ verquickt Bombast und elegante Größe in erstklassiger Manier. Interessanterweise klingt diese ganze Requiem-Aufführung so ganz und gar nicht nach Begräbnis samt entsprechender Trauer, sondern eher nach Jenseitsfreude, in der textgemäß auch der Rachen des Löwen im Offertorium keine Gefahr mehr darstellt. Die Gefahr lauert an diesem Abend denn auch ganz woanders, nämlich beim Solistenquartett, das als solches überhaupt nicht funktioniert. Sopranistin Natalija Cantrak passt vom Gesangsstil her gar nicht zum Rest, übertönt in den Quartettnummern alle und offenbart zudem akute Schwierigkeiten bei weiteren Tonsprüngen nach oben. Tenor Christoph Pfaller versucht dominanztechnisch gegenzusteuern (mit einer sehr schönen Stimme allerdings), was dazu führt, dass Bassist Jonas Atwood weitgehend untergeht (dass er als 25jähriger Student noch keine Tiefenpower hat wie ein Wolgatreidler, ist ihm natürlich nicht vorzuwerfen, aber dadurch werden die Quartette noch höhenlastiger, als sie sowieso schon sind), und Altistin Monika Zens sieht auch kaum mal einen Stich. Dass Atwood und Zens stimmlich einiges draufhaben und farblich auch gut zusammen passen, erkennt man somit nur sporadisch, etwa im „Recordare“ oder in den wenigen solistischen Passagen im „Benedictus“. Dort wie auch schon an mehreren Stellen zuvor hat man allerdings eher wieder Foremny im bewundernden Blick, der die Hundertschaften vor ihm perfekt durch die diversen Rhythmus- und Stimmungswechsel lenkt, ebensolches auch in den Finalsätzen tut und im „Agnus Die“ ins Wort „Requiem“ programmgemäß enorm viel Ruhe legen läßt, die man mit einem derartigen Riesenapparat auch erstmal hinbekommen muß. Als dann auch noch die Schlußsteigerung im „Communio“ gelingt, ist klar, daß wir hier eine beeindruckende Aufführung erlebt haben, deren Schlußspannung beeindruckend lange steht und durch keinen Huster oder Vorabapplaudierer torpediert wird.

Roland Ludwig


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