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Dass der November 1989 im November 1990 ein Jahr vergangen war, klingt wie eine mehr als banale Feststellung. Aber der November 1989 ist alles andere als ein banales Datum. Eigentlich müsste der Tag der deutschen Einheit in diesem Monat gefeiert werden. Denn die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze war gerade angesichts der Art und Weise, auf die sie geschah, ein Ereignis, das man schon fast als reales Wunder bezeichnen muss. Das Unterzeichnen des Einigungsvertrags durch Birne Kohl am 3. Oktober 1990 war nicht mehr als das Abstauben eines Verdienstes, der ganz Anderen zusteht.
Darum ist die Bemerkung, dass der November 1989 im November 1990 ein Jahr vergangen war, alles andere als banal. Denn am 9. 11. 1989 wusste noch niemand, was jetzt passieren würde. Im Positiven, wie im Negativen schien alles möglich. Und das war schon viel mehr, als in den Monaten zuvor, als die Teilnehmer von Friedensgebeten anfingen die Kirchen zu verlassen und auf die Straße zu gehen, mit der mehr als wahrscheinlichen Befürchtung dafür mit Karriere, Freiheit oder sogar dem Leben bezahlen zu müssen.
Ein Jahr später war alles anders. Zwar wusste auch jetzt niemand was passieren würde. (Außer Helmut Kohl, der von blühenden Landschaften in der ehemaligen DDR schwafelte) Sicher aber war, dass sich die Ordnung der Welt radikal ändern würde. Der Geist der Veränderung, stark verbunden mit dem Namen von Michail Gorbatschow, lag in der Luft – und so sehr die Monate vor dem November mit Angst verbunden waren, so sehr lag nun der Geist der Hoffnung in der Luft.
Die Scorpions konnten 1988 nach Uriah Heep (1986) als zweite westliche Hard Rock Band in der Sowjetunion auftreten. Im August 1989 waren sie als Teilnehmer beim Moscow Music Peace Festival erneut in der im Perestroika-Fieber vibrierenden Weltmacht. Offenbar war die Atmosphäre, die sie dort aus erster Hand erleben konnten, so beeindruckend, dass die Hard Rocker, nicht unbedingt für sonderlich tief schürfende Teste bekannt, in der Lage waren, eine Ballade zu schreiben, die den in der Luft liegenden „Wind of Change“ überzeugend in Wort und Melodie eingefangen hat. Auf dem Single-Cover, das für die luftige Ballade unpassend düster wirkt, symbolisiert sich die Erosion der Weltmacht in einem zerbröselnden Sowjetstern.
Für die „Marke“ Scorpions war das der Durchbruch zu einem Weltruhm, der sie aus der Hard Rock Szene, in der sie bereits seit den späten 70ern eine große Nummer und seit dem Album Love at first Sting (1984) einer der weltweit größten Acts waren, in den Mainstream katapultierte. Ein Danaergeschenk! Denn plötzlich tauchten bei den Konzerten gestylte Sekretärinnen und biedere Hausfrauen auf, die von dem Ilse Werner Gepfeife des Superhits begeistert waren. Die in Jeans, Leder und Kutten gekleideten Alt-Fans fühlten sich in dieser Umgebung nur noch bedingt wohl. Und der Kurs den die Hannoveraner nach Crazy World, dem Album, auf dem „Wind of Change“ erschien, einschlugen, war durchaus geeignet, dieses Unwohlsein zu bestärken.
So wird Crazy World zu einem Album, das sehr zwiespältig bewertet wird. Für viele Scorpions-Fans gilt es heute als das Album, mit dem die Hard Rocker ihre Wurzeln verraten haben. Aber das ist ein Blick, der das Album aus der Zukunft heraus in den Blick nimmt. 1990 sah das anders aus. Und das liegt nicht nur daran, dass Crazy World neben (und vor) „Wind of Change“ reichlich harten Stoff liefert, sondern auch daran, dass gerade dieser Ballade – vor ihrem Durchbruch in den Mainstream – auch von den Scorpions-Fans geliebt wurde – bis auf die, die die Band bereits seit dem Ausstieg von Uli Jon Roth abgeschrieben hatten.
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