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Artikel

Anti-Flag locken den amerikanischen Frühling und singen dem Sozialismus ein Liebeslied

Info

Gesprächspartner: Chris #2 (Bass, Vocals)

Zeit: 09.04.2015

Ort: Caroline Records, Berlin-Kreuzberg

Interview: Face 2 Face

Stil: Punk

Internet:
http://www.anti-flag.com

Norbert lässt sich gerne mal auf Neues ein. Anti-Flag kannte er nur vom Hörensagen als politische Punk Band aus den USA. So gab es für ihn die eine oder andere Überraschung. Zum Beispiel hörte sich die Band ganz anders an, als er das erwartet hatte. Die Texte allerdings entsprachen seinen Erwartungen und so bereitete er sich auf ein politisches Interview bei Caroline Records in Kreuzberg vor.

Aus der Addition „Kreuzberg + Punk + Politik“ ergibt sich assoziativ erst mal eine Erwartung, die so gar nicht dem freundlichen, hellen Besprechungsraum hinter dem Schaufenster eines Ladengeschäfts entspricht, in dem man sich auf modernen hellgrauen Sofas niederlässt und zu dem Obst und Mineralwasser greift, das auf dem Glastisch bereit steht.

Da Politik eine zentrale Größe dieses Interviews werden soll, gibt Norbert erst mal seinen eigenen Hintergrund preis, um Missverständnissen vorzubeugen. Nachdem er erwähnt hat, dass er die USA nicht zuletzt durch seine Kontakte zu der liberalen evangelischen United Church of Christ kennt, lässt es sich sein Gesprächspartner, Sänger und Bassist Chris #2, nicht nehmen etwas zu seinem Verhältnis zu Religionen zu sagen, bevor Norbert mit der ersten Frage ins eigentliche Interview einsteigen kann.


Fotos (wo nicht anders vermerkt): Norbert von Fransecky

Chris #2: Meine persönliche Einstellung zu Religion ist: Wenn Du den Lehren irgendeiner der Religionen folgst, dann sind sie auf Mitgefühl gegründet und darauf, sich um Deinen Nächsten zu kümmern. Sie werden aber oft manipuliert und in fundamentalistische Richtungen getrieben.

MAS: Ihr wart für zwei Alben bei einem deutschen Label unter Vertrag. Habt Ihr dadurch ein besonderes Verhältnis zu Deutschland bekommen?

Chris #2: Unsere erste Erfahrung mit Firmen vor Ort in einzelnen Ländern hatten wir 2004, als wir einen Vertrag mit einem Major Label abgeschlossen hatten. (Es handelt sich um RCA; s. Diskografie; NvF) Vorher lief das über einzelne Telefonate mit einzelnen Läden in Spanien oder sonst wo. Da war der Versand dann sehr teuer und es ging auch immer nur um vier oder fünf Exemplare.

Die Erfahrung einen Ort, wie diesen hier zu haben, wo wir hinkommen können, hat unsere Perspektive doch sehr verändert. Während wir mit dem amerikanischen Label gearbeitet haben, das unsere Scheiben an andere Firmen lizensiert hat, haben wir die Arbeit von Mirko (Mitarbeiter von SideOneDummy Records, der auch dieses Interview organisiert hat. NvF) schätzen gelernt, so dass wir dafür gesorgt haben, ihn trotz des Labelwechsels zu behalten. Für uns war es wichtig, dass seine Arbeit auf Gemeinschaft basierte, auf Empathie, darauf Menschen zusammen zu bringen. Diese Ideale sind hier in Deutschland wirklich unterstützt worden. Vielleicht sind es die historischen Erfahrungen, die Angst vor dem Nationalismus und die Erkenntnis wie sehr Dinge gegen den Baum fahren können, die dazu geführt haben, dass wir hier vom Publikum stärker akzeptiert werden. Generell gibt es hier ein größeres Verständnis für die Bedeutung von Kultur. Die Musik- und Festivalkultur ist einfach besser als in den Staaten.


MAS: Warum dann der Wechsel zu Spinefarm?

Chris #2: Um die weltweiten Verbindungen zu verbessern. Jetzt haben wir ein Label im UK, eins in Japan, eins in Finnland. Diese globale Präsenz ist uns wichtig.

MAS: Die Deutschen waren – und sind - große Obama Fans. Als er gewählt wurde, hätte er locker Bundespräsident werden können, wenn er sich darum beworben hätte.

Chris #2: 2008 hätte er überall Präsident werden können. (Lacht!)

MAS: Euer neues Album beginnt mit Obama. In dem Essay zu „Fabled World“ wird seine Amtszeit als „tragischer Fehlschlag“ beschrieben. Obama ist sicher nicht der Messias, den am Beginn seiner Präsidentschaft manch einer in ihm sehen wollte. Aber ist eurer Meinung nach durch seine Präsidentschaft etwas dauerhaft verändert worden?

Chris #2: Es gibt verschiedene Dinge, vor denen wir geschützt worden sind dadurch, dass wir Obama hatten. Ganz vorne steht die Art und Weise, wie wir jetzt mit Krieg umgehen. Es hätte durchaus die Option eines Krieges mit Nordkorea gegeben, wenn McCain gewonnen hätte. McCain ist ein Falke. Er ist mit dem Motto eines andauernden Krieges gegen den Terrorismus in den Wahlkampf gegangen – bzw. gegen alles, was wir als Terrorismus bezeichnen. Ich denke, das ist ein großer Sieg Obamas trotz seiner kurzen achtjährigen Amtszeit. Konflikte, die möglicherweise hätten hoch kochen können, sind uns erspart geblieben.

Das neue Verhältnis zu Kuba könnte etwas lang Andauerndes werden. Obama ist erstmals als Präsident öffentlich deutlich für die Rechte von Homosexuellen und Transgender-Gemeinschaften eingetreten. Und dann ist da einfach noch die pure Erfahrung, dass ein Afroamerikaner in dieses machtvolle Amt gewählt worden ist. Seine Wahl war eine unter die Haut gehende Erfahrung für alle, die sich für fortschrittliche Entwicklungen eingesetzt haben.


Es ist der genaue Gegensatz zu dem, was in Fergusson, Missouri, passiert ist. (Am Abend des 9. August 2014 wurde der 18-jährige afroamerikanische Schüler Michael Brown von einem Polizisten erschossen. NvF) Obama war direkt danach im Fernsehen und sprach die Sache mit keinem Wort an. Das vermittelt den Eindruck, als habe er nicht ein Stück Mitgefühl mit den Familien, dass er stattdessen den Status Quo schützt, wenn er sich mit Sätzen wie „Kein Aufruhr!“ oder „Schützt das Eigentum!“ zu Wort meldet. Ist denn das Eigentum wichtiger?

Das gehört zu dem, was wir Obama vorwerfen. Er repräsentiert nicht die Tatsache, dass er im Gegensatz zu den früheren Präsidenten, die Männer der Unternehmen gewesen sind, als Mann des Volkes gewählt wurde.

MAS: Liegt die Schuld an seinem Versagen in ihm selber, oder in dem politischen System der USA?

Chris #2: Wenn man ihn reden gehört hat, oder ihn als Person erlebt hat, dann war einfach jeder bewegt. Man konnte sich da gar nicht gegen wehren. Und dann war es, als hätte man ihn ausgetauscht – die Sprache und das Auftreten.

MAS: Sein Charisma war verschwunden.

Chris #2: Ja, und das war sehr enttäuschend. Zu behaupten, wir wären vorsichtig optimistisch gewesen, wäre ein klares Understatement. Er wurde als ein Präsident gesehen, der die Welt verändert. Wir alle wissen das. (Lacht!) Wir alle wissen, dass positive Veränderungen von Basisbewegungen kommen. Es kommt immer von unten; nie von oben.

MAS: Und Basisbewegungen haben es schwer in einem Land, in dem alle Stimmen an die jeweils stärkste Partei gehen und der Präsident vom Senat und Kongress völlig lahm gelegt werden kann.

Chris #2: Ja, das war eine weitere frustrierende Sache. Er trat an mit der Idee von einer allgemeinen Krankenversicherung, dem Schließen von Guantanamo, der Beendigung der Kriege im Irak und in Afghanistan. Er kam als ein Anti-Kriegs-Präsident ins Amt. Das klare Fenster der Möglichkeit diese Sachen durchzusetzen hat er zu Beginn seiner Präsidentschaft verpasst. Dann drehte sich alles hin zu einer Situation, alle im Senat und alle im Kongress gegen Obama. Das was dann tatsächlich passierte, war alarmierend erbärmlich.
Die Blume, die die Macht sprengt – das American Spring Cover-Motiv schmückt das Album vorne und hinten


Unsere Scheibe heißt American Spring. Und das spielt natürlich auf den arabischen Frühling an. Du siehst die Demokratiebewegung in Ägypten, die eine Diktatur herausfordert. Und dann ist da eine USA, die mehr Waffen an Ägypten verkauft, als irgendwer in der Welt. Wie kann man da die USA als einen pro-demokratischen Staat bezeichnen? Selbst beim Krieg gegen den Irak ging es um die Verbreitung der Demokratie. Es gab die Chance einer pro-demokratischen Bewegung zu helfen, stattdessen wurden deren Gegner bewaffnet.
Das war ein klarer Fehler – und ich bin überzeugt, da hätte Obama die Möglichkeit gehabt dazwischen zu gehen.

MAS: Du meinst, er hätte auch bei den Systemvoraussetzungen der USA die Möglichkeit gehabt, mehr zu tun?

Chris #2:Eindeutig. Und ich will das auch so glauben. Sonst verlierst Du alles und verfällst in Apathie und fragst Dich, wozu überhaupt wählen. Ich verstehe, dass viele Leute nicht wählen gehen. Sie sagen sich, es bringt nichts. Es hilft keinem. Alles geht immer so weiter. Es ist die Wahl zwischen Pepsi und Coca.

MAS: Der Begriff „arabischer Frühling“ enthält zwei Element – zum einen den Verweis auf eine frische, Hoffnung weckende Bewegung; zum anderen die Vorstellung eines politischen Establishments, das den Kontakt zur eigenen Bevölkerung weitgehend verloren hat und in einer Art politischem Autismus regiert. Die Texte von `American Spring´ lassen viel von letzterem erkennen. Aber wie sieht es mit hoffungsvollen Gegenbewegungen aus? Als Obama erstmals als Präsident kandidierte, war das mit Händen zu greifen. Gibt es heute entsprechende Aufbrüche in den USA?

Diskografie

New Red Archives
1996: Die For The Government

Liberation Records
1998: Live At The Fireside Bowl

A-F Records
1999: A New Kind Of Army

Fat Wreck Chords
2001: Underground Network
2003: The Terror State

A-F Records
2004: Death of a Nation (live)

RCA Records
2006: For Blood And Empire
2008: The Bright Lights Of America

SideOneDummy Records
2009: The People Or The Gun
2011: Complete Control Recording Sessions (live)
2012: The General Strike

Spinefarm Records
2015: American Spring
Chris #2: Es gefällt mir sehr, wie Du das beschreibst. Es trifft den Punkt genau. Wenn man ein Album macht, das aus sozialen Kommentaren besteht, dann beschreibt man nicht, wie die Dinge sein sollten. Man hat eine Idee und einen Plan, und dann setzt man sich hin und schreibt Songs, und die Songs verändern sich. Das Album verändert sich. Vor drei Monaten, als wir dieses Album machten, gab es die große Schießerei in Atlanta. Typischerweise sind wir auf Alben wesentlich hoffungsvoller. Selbst in schwierigen Zeiten geht es darum, dass das, an was wir glauben, kommen kann. American Spring ist dagegen wesentlich stärker Kommentar dessen, was gerade passiert. Um dem wieder die Dimension der Hoffnung zu verleihen, haben wir es American Spring genannt. Um zu sagen, das ist hoffentlich ein Kapitel das endet. Und der Anfang, der beginnt Jetzt.

Ich bin mir unsicher, wo sie herkommen wird. Ich weiß nicht, was für Menschen die Revolution machen werden. Aber ich weiß, dass im arabischen Frühling der Gebrauch moderner Technologie, die Art wie der Gebrauch neuer Kommunikationsformen die jungen Leute in Bewegung gesetzt hat, fantastisch war. Und dann schaue ich mir Dinge an, wie die Schiesserei in South Carolina – erst gestern glaube ich. Ich komme mit den unterschiedlichen Zeiten noch etwas durcheinander (Lacht!).

Hätte es da nicht dieses Handy gegeben, mit dem man ein Video machen konnte, wäre der Bulle wahrscheinlich einfach davon gekommen. Es könnte diese Technologie sein, die die neue Volksrevolution voran bringt. Wir sind dadurch geschützter. Wir alle können die Medien selber gebrauchen. Wir werden auf unsere eigene Art und Weise mächtig, indem wir soziale Medien, unsere Handykameras und schützende Geräte nutzen. Und das geschieht mehr und mehr

Ich glaube wir befinden uns an einem ganz wichtigen Punkt der Geschichte, wo sich die Paradigmen verschieben. Wie immer diese Revolution auch aussehen wird, sie könnte der erste Schritt hin zu einer viel direkteren Art von Demokratie sein, wo es nicht mehr die Sache von Strohmännern ist, den Leuten die Wege aufzuzwingen, die sie gehen sollen, wo es nicht mehr um Unternehmensinteressen geht und danach, wer die Politiker bezahlt, die Hunderte von Millionen Dollar brauchen, um gewählt zu werden.

MAS: Ein starkes Votum für die Chancen, die neue Technologien mit sich bringen. Da dürfte es in Deutschland eine wesentlich skeptischere Haltung geben.

Chris #2: Ja! (Lacht!)

MAS: Ein Zitat aus dem bereits erwähnten „Fabled World“:
„Die Geschichte beginnt mit Völkermord, Sklaverei, terrorisierten Familien, zerstörten Kulturen
Die hässliche Wahrheit, nur der Anfang
Es ist ein weiß gewaschener Pakt, der Gründungsakt, Revolution? Oder Vertrag?
Um zu unterjochen, zu quälen, zu missbrauchen
Für wenige“

(“The story starts with genocide
Slavery, those terrorized
Families, cultures torn apart
This ugly truth, only the start
And it's a white washed pact
The Founding Act
Revolution? Or contract?
To subjugate, to torture, to abuse
For the few”)

Das bezieht sich direkt auf den amerikanischen Gründungsmythos und ist eine sehr harsche Kritik an den Grundfesten der amerikanischen Gesellschaft und der amerikanischen Art zu denken.


Chris #2: Ja!

MAS: Ich bin in den USA in Kontakt mit einer eher linksliberalen Kirche, aber selbst dort gibt es ein grundsätzlich positives Verhältnis zu einem amerikanischen Patriotismus. Ganz zu schweigen von den glorifizierenden Präsentationen an Nationalheiligtümern, wie Fort McHenry oder der Liberty Bell in Philadelphia. Wie geht so eine Gesellschaft mit einer Band um, die es wagt sich Anti-Flag zu nennen?

Chris #2: Es ist komisch. Das verläuft in Wellen. Manchmal ist es sozial völlig akzeptabel Anti-Flag zu sein. Wenn dann so was passiert, wie am 11. September 2001, gilt das als nicht mehr sehr akzeptabel.

Bei vielem, was wir tun, geht es uns darum einen Dialog herzustellen. Es sind Reaktionen auf das, was wir sehen, was wir hören und was wir lesen und die Bewertungen davon.

Es ist uns bei der Einreise in die USA, als wir nicht privat unterwegs waren, sondern mit unserm ganzen Equipment und entsprechender Beschriftung, schon passiert, dass uns gesagt wurde: Anti-Flag, das geht doch gar nicht. Das könnt Ihr nicht machen.“ Aber wie können wir so stolz darauf sein, das Land der Freiheit und der freien Rede zu sein, wenn unsere erste Reaktion auf jeden, der unsere Gesellschaft kritisiert, darin besteht, ihm zu sagen, das darf nicht sein. Wir werden die Einstellung dieses Grenzschutzbeamten und seine Einstellung zur amerikanischen Flagge nicht ändern (Lacht!), aber es gibt andere Gelegenheiten. Wenn sich zum Beispiel junge Leute mit der Band beschäftigen. Sie gewinnen ein Stück Kritikfähigkeit, hören hin, nehmen Dinge wahr und ziehen ein Band-Shirt an. Und da bleibt etwas. Die Kids hören sich die Band an, gehen dann für fünf oder zehn Jahre weg und kommen wieder und sagen: „Hey, ich bin mit 15 oder 16 bei Euern Shows gewesen und jetzt bin Anwalt für Bürgerrechte, oder Sozialarbeiter." Und der Typ der mit 17 das Message-Board unserer(?) Website gemacht hat, betreibt heute eine Food-Coop in Winnipeg und brachte die Occupy-Bewegung nach Winnipeg.

Da sind Leute aktiviert worden, haben Einfühlungsvermögen gewonnen und begonnen sich um mehr zu kümmern, als nur um sich selbst. Und sie sind dahin geführt worden, natürlich nicht nur durch Anti-Flag. Das würde ich nie behaupten. Es geht uns nicht um schnelle Effekte, um sofortige Veränderungen, sondern um langfristige Entwicklungen, mit denen Menschen an verschiedenen Punkten ihres Lebens an diese Ideale herangeführt werden.

MAS: Im Booklet Eurer CD werden zu jedem Titel kommentierende Texte zu finden sein. (Das Album wird am 22. Mai erscheinen; Red) Als Berliner hat mich das Stück „Brandenburg Gate“ natürlich besonders interessiert. Von daher war ich enttäuscht, dass nun gerade der Kommentar dazu in den Pressematerialien nicht enthalten ist – und aus sich heraus verstehe ich den Text nicht ganz. Du erzählst von einem „lost Baby“. Ist damit eine bestimmte Person gemeint, oder ist das eher eine Art Symbol?

Chris #2: Lustiger Weise beides! Wir haben den Text offen gehalten für Interpretationen. Aber ich kann etwas dazu sagen, weil ich darin persönliche Erfahrungen verarbeitet habe. Bevor wir dieses Album gemacht haben, ist eine langjährige Beziehung zu Ende gegangen. Sie bestand über die gesamte Zeit, in der ich der Band war – 15 oder 17 Jahre. Wenn Dir so etwas passiert – Das habe ich lernen müssen – dann gerätst Du in einen inneren Kampf. Du wusstest, wo Du warst – für ewig. Und dann ist von einem Tag auf den anderen alles anders.

Ich war in Berlin, als das passierte. Wir waren auf Tour. Ich war tatsächlich genau in dem Hotel, in dem wir heute sind. Darum bin ich auch so müde. Ich hab kaum geschlafen. (Lacht!) Es ist alles noch sehr frisch und die Wunde schmerzt auch jetzt noch.

Ich habe diesen Song geschrieben und dabei mit dieser persönlichen Erfahrung begonnen und dann Metaphern benutzt, um das in Verbindung damit zu bringen, warum ich, warum diese Beziehung gescheitert ist. Als ich den Song dann der Band vorgespielt habe, war klar, wir machen keine Lovesongs. Das steht bei uns nicht auf der Agenda. Und ich sah, dass es in den Köpfen der anderen arbeitete, wie sie sich damit in Beziehung bringen können. Denn sie haben natürlich ähnliche Erfahrungen gemacht.


Und dann machte es Klick. Da war das Brandenburger Tor und das Leben mit der Mauer und die Zeit, in der das Brandenburger Tor unzugänglich war. Und jetzt - Wir sind gerade vor dem Interview von dort zurückgekommen. – ist da buntes Leben mit, Pferden, Spielzeug, der amerikanischen Botschaft – ein wunderbarer Platz. In der Zeit der Mauer und der Ungleichheit und der Trennung der Menschen war dieser wunderbare Platz isoliert. Das verband sich mit mir und meinem persönlichen Erleben und auch mit den Erfahrungen der anderen, die sich eine Art von Politik wünschen, die es nicht gibt und die auch unerreichbar erscheint.

In Berlin gibt es eine allgemeine Krankenversicherung. Es gibt Universitäten. Das haben wir in Amerika so nicht. Es scheint unerreichbar. Wir kommen nicht ran. Alles ist wie hinter einer Mauer. Die Mauer ist der Sozialismus. Und das ist ein richtig schmutziges Wort. Aber: Nichts ist unerreichbar. Genau wie die Mauer gefallen ist. Genau, wie ich wieder Vertrauen in mich gewonnen habe – und auch in meine eigene Identität. Dann habe ich den Song geschrieben und weiter gemacht, auch mit der Band. Ich bin nicht einfach ausgestiegen, denn die Band war einer der Gründe, aus denen meine Beziehung zerbrochen ist.

Für uns ist daraus eine Art Liebeslied für den Sozialismus geworden. Für eine amerikanische Band ist das eine Aussage, die noch viel „böser“ ist, als der Bandname Anti-Flag. (Lacht!)

MAS: Das „lost Baby“ in „Brandenburg Gate“ steht also dafür, dass die USA von den positiven Seiten einer sozialistischen Politik so tief getrennt ist, wie es Ost und West vor dem Mauerfall waren, dass es aber nicht völlig illusorisch ist, dass auch die USA einmal ein besseres Bildungs- und Sozialwesen bekommen.

Chris #2: Ich denke es bewegt sich schon irgendwie in diese Richtung. Kanada ist zum Teil weniger als 20 Meilen von amerikanischen Großstädten entfernt. Man kann dort an die Uni gehen und seine Einstellung ändern. Es will doch niemand für den Rest seines Lebens da stehen bleiben, wo er mit 18 mal war.

MAS: Ich hatte Dir zu Beginn des Gesprächs ja gesagt, dass ich bevor ich den Download-Link für das `American Spring´ Material bekommen habe, noch nie bewusst etwas von Anti-Flag gehört hatte. Nachdem, was ich über die Band wusste, hatte ich mit etwas im Stil von Rage against the Machine oder zumindest den Dead Kennedys gerechnet. Was ich hörte, war aber eher die sonnige Seite der amerikanischen Punk Musik.

Chris #2: Ja, das ist richtig!

MAS: Wie passt das zu den wütenden Texten?

Chris #2: Wir versuchen die Wut, packende Melodien und ein Gefühl für Popmusik miteinander zu verbinden. Unsere Lieblingsband sind The Clash. Wir suchen nach einem Weg, die Dinge so zu sagen, dass sie sich im Kopf festsetzen, bevor die Leute überhaupt merken, dass sie z.B. über amerikanischen Terrorismus singen.

MAS: Ihr transportiert die Lyrics also mit netten Melodien, wie mit einem trojanischen Pferd in die Köpfe der Leute.

Chris #2: Ja. (Lacht.) Das gefällt mir (Lacht weiter!) Das ist großartig. (Hört gar nicht auf!) Ja, letztlich ist das der Kurs, den wir beim Schreiben verfolgen.
Das Vorgänger-Album General Strike, das noch beim Münsteraner Label SideOneDummies erschienen ist


MAS: Hat sich bei Euch seit `General Strike´ Grundsätzliches verändert?

Chris #2: Im Wesentlichen zweierlei; zum einen haben wir das 20. Jubiläum der Band gefeiert und haben dann auch die Schallgrenze von zehn Alben erreicht. Und wir haben uns angesehen und uns gefragt: Ist es nötig, noch eins zu machen? Du kannst auf Tour gehen, Deine Arbeit machen und die Leute kommen, um die alten Songs zu hören. Müssen wir dann versuchen neue Songs zu schreiben? Die Antwort war, dass wir ein Album machen wollten, das die Band überdauern soll. Ich denke der größte Unterschied in den dreieinhalb Jahren zwischen General Strike und American Spring, das wir sorgfältiger waren. Und ich denke, das kann man hören.

Wenn Du in einer Band und am Aufnehmen bist, wirst Du schnell nachlässig. Es ist einfacher von 12 bis 4 zu arbeiten, nach hause zu gehen, Mittag zu essen und den Hund zu streicheln. Für American Spring sind wir aus Pittsburgh raus gegangen und haben das Album konzentriert fertig gemacht. Damit will ich nicht schlecht von den anderen Alben sprechen. Wir stehen zu dem, was wir gemacht haben. Jeder Song ist ein Ausdruck von dem, wo wir zum jeweiligen Zeitpunkt standen.

MAS: Chris, herzlichen Dank für das Gespräch!“

Norbert von Fransecky


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