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Boston - oder: Was man mit einem fliehenden Raumschiff so alles erleben kann

Boston das ist immer mehr das Synonym für Mastermind Tom Scholz – und dieser Tom Scholz macht eigentlich alles falsch, was im Lehrbuch für den erfolgreichen Rockstar steht. Scholz scheißt auf Trends. Er lässt zwischen den einzelnen Alben seiner Bands Zeiträume verstreichen, in denen nicht nur andere Bands, sondern ganze Musikgenres wieder in der Vergessenheit verschwinden. Er verzichtet weitgehend darauf Interviews zu geben – von Yellow Press Meldungen irgendwelcher Art mal ganz zu schweigen. Neue Alben kommen plötzlich ohne große Ankündigung oder Werbung an den Start. Das aktuelle Album verzichtet gar völlig auf jede Erwähnung des Bandnamens auf dem Titel. Scholz scheint der Meinung zu sein, die Leute würden seine Alben schon haben wollen, ohne dass er großen Wind darum macht. Und im Wesentlichen scheint er damit Recht zu haben.


Maßstäbe setzte das 1976 erschienene Debütalbum Boston. Der Opener „More than a Feeling“ erscheint bis heute regelmäßig in den Playlists der Radiostationen oder auf Compilations. Boston haben sich damit wohl für alle Ewigkeiten im Olymp des AOR und Melodic Hard Rock festgesetzt.
Auf dem bis heute 17 Millionen Mal verkauften Album findet sich nicht ein einziger Filler. Fast alle Stücke stammen aus der Feder von Tom Scholz. Lediglich die abschließende Ballade „Let me take you home tonight” ist von Scholz’ Sidekick, dem Sänger Brad Delp, geschrieben worden. Er erhielt außerdem bei „Smokin“, dem rockigsten Stück des Albums, Co-Songwriter Credits. Cover-Versionen, auf vielen Debüts ein Muss um etwas Aufmerksamkeit zu erregen, sind bei Boston bis heute nicht erschienen.

Boston erschien mit einem Cover, das alle Ansprüche an ein Hard Rock Album erfüllte. Vor dem dunklen Hintergrund des Weltalls macht sich eine Armada von Raumschiffen auf ins Exil. Im Hintergrund sieht man die in einem Feuerball explodierende Erdkugel. Ob das von Scholz so beabsichtigt war oder nicht, es ist aus heutiger Sicht eine durchaus passende Reminiszenz an eine Zeit, in der der kalte Krieg einem seiner Höhepunkte zusteuerte und in der die zerstörerische Kraft technologischer Großprojekte eine vom Menschen verursachte Zerstörung der Erde immer wahrscheinlicher machte.
Ein näherer Blick zeigte, dass die Raumschiffe die Form einer E-Gitarre haben, auf deren rundem Corpus jeweils die Skyline einer (amerikanischen) Großstadt unter einer Glaskuppel zu sehen war. Das vorderste Raumschiff trug deutlich erkennbar die Aufschrift Boston.

Boston - Don’t look back (1978)

Zwei Jahre später hat das geflüchtete Raumschiff Boston offenbar ein rettendes Ufer gefunden. Auf dem Cover des zweiten Albums ist eine liebliches grünes Tal zu sehen, in dem das Raumschiff Boston auf einer Art Energiesäulen ruht. Don’t look back heißt der Titel des Albums, dessen Erfolg sich auf lange Sicht zwar nicht mit dem Debüt messen kann, das bei Veröffentlichung im Sog des überwältigenden Vorgängers (in den USA) aber sogar höhere Chartpositionen erreichen konnte. Während Boston sich mit Platz 3 zufrieden geben musste, eroberte Don’t look back als erstes von zwei Alben die Poleposition der Charts, die es allerdings (schon) nach 45 Wochen wieder verlies, während Boston dort 132 Wochen verweilte. In Deutschland, wo Boston nie so weit nach oben kamen, sah das anders aus. Boston stieg bis auf Platz 4 in die Charts und blieb dort 32 Wochen; Don’t look back schaffte es bis auf Platz 10 und verschwand bereits nach 15 Wochen wieder.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren Boston in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit eine zwar erfolgreiche, aber ansonsten recht „normale“ Band, die sich so geschickt im Grenzbereich von Rock und Hard Rock platziert hatte, dass es ihnen gelang Stammgast im Mainstream-Pop Bereich zu werden, ohne bei den Hörern „richtiger“ Musik die Glaubwürdigkeit zu verlieren. Der Wandel kam mit Album Nummer drei, passend Third Stage genannt.

8(!) Jahre mussten die Fans auf das Album warten – bzw. hat wohl kaum noch jemand gewartet. Zumindest ich hatte die Band völlig vom Schirm verloren und hielt das neue Album für das Ergebnis einer Reunion. Zumal bereits das Cover einen völlig anderen Eindruck machte als bisher. Aus der „konservativen“ E-Gitarre war ein moderner kopfloser Bass, wohl eine Art Chapman Stick, geworden. Die alte Stadtkuppel taucht nur am fernen Ende als ein offensichtlich ausstoßbares Beiboot auf. Das Raumschiff befindet sich außerhalb der Atmosphäre eines Wasserplaneten, oder eines von einer undurchdringlichen Wolkenhülle verdeckten Planeten. Die Reise schien also auf einer neuen Ebene weiter zu gehen. Dazu passte die ganz im Stile der 80er Jahre jetzt stärker von Synthesizern geprägte Musik.

Als ich die CD dann in der Hand hielt und mich mit den Angaben im Booklet beschäftigte, erfuhr ich, dass alles ganz anders war. Boston hatten nie aufgehört zu existieren. Akribisch war vermerkt, wann Scholz an welchem Titel gearbeitet hatte. Und die genannten Daten deckten den gesamten Zeitraum zwischen Don’t look back und Third Stage ab. Aber Scholz hatte nicht nur an seinem neuen Album gearbeitet. In Anlehnung an den von Sony entwickelten tragbaren Cassettenspieler Walkman entwickelte er den Rockman, einen tragbaren Verstärker mit diversen Soundmanipulationsmöglichkeiten, der es ihm – und bald auch anderen Gitarristen – ermöglichte, mit der Gitarre Klänge zu erzeugen, die massiv nach Synthesizern klingen. Bis heute tragen die Boston-Alben den stolzen Aufkleber No Synths!
Boston - Walk on (1994)

Acht Jahre später landen Boston erneut. Und das ist covertechnisch wörtlich gemeint. Während das Raumschiff auf den Alben 1 und 3 im All schwebt; befindet es sich auf 2 und 4 auf dem Boden. Das Raumschiff scheint nun die vom Third Stage-Cover her bekannte Kapsel zu sein und die Landung sieht doch recht massiv nach Bruchlandung aus. Vielleicht weil es das bislang einzige Album ohne Brad Delp ist? Jedenfalls ist der Qualitätsabfall deutlich. Während es Third Stage in den USA erneut auf Platz 1 und in Deutschland auf Platz 25 schaffte, muss sich Walk on mit 7 und 40 begnügen. Erneut erteilt Scholz der Digitaltechnik eine klare Abfuhr. Es sei mit einem richtigen Spulentonband aufgenommen heißt es im Booklet. Um dann nicht ohne Selbstironie fortzufahren: „The hand claps are actually people clapping, not a drum machine! The Hammond and Leslie are actually Hammond and Leslie, not a synthesizer! The piano is actually a piano, not a sampler! The wind is actually wind in real trees, not a noise generator! The Clavinet and strings are actually... well, nobody's perfect!”.

Mit dem Erscheinungsjahr 2002 lag Album Nummer fünf völlig korrekt im nun schon gewohnten 8-Jahres-Rhythmus. Brad Delp war wieder an Bord. Und ebenfalls fast vorhersehbar – das Raumschiff schwebte wieder in der Umlaufbahn eines Planeten, allerdings ist erstmals keinerlei Kuppel auf dem Raumschiff zu sehen. Ist Boston verlorengegangen? Zumindest charttechnisch hatte die Band endgültig(() an Höhe verloren. Selbst in ihrer Heimat war Corporate America schon nach drei Wochen wieder aus den Hitparaden verschwunden und hatte in dieser Zeit mit Platz 42 nicht einmal die deutsche Wertung des Vorgängers erreicht. In Deutschland tauchte das Album in den Charts gar nicht erst auf.

Aber vielleicht gibt es Hoffnung. Mit seiner blau-grünen Färbung und den weißen Wolke wirkt der Planet, über dem das Raumschiff schwebt, dieses Mal sehr erdähnlich. Waren Boston auf dem Weg nach Hause?
2011 tauchen Boston dann zumindest in der MAS wieder auf. Im Rahmen meiner monatlichen Kolumne 25 Years after befasse ich mich im Dezember 2011 mit dem genau 25 Jahre zuvor erworbenen Album Third Stage. Der Anlass lies mich nachrechnen und führte zu folgender Anmerkung: „Die derzeitige Reise der Boston Crew scheint sie in noch fernere Regionen der Galaxis geführt zu haben. Der reguläre Acht-Jahres-Rhythmus hätte uns nämlich „schon“ 2010 ein weiteres Album bescheren müssen."

Erst in diesen Wochen kam die erlösende Nachricht. Das Raumschiff fliegt noch. Nach dem bisherigen Cover-Rhythmus hätte es eigentlich wieder einmal festen Boden unter den Füßen haben müssen. Aber erneut schwebt es im All. Möglicherweise hat es zwischendurch Bruch gegeben. Denn von dem nach Album Nummer zwei runderneuerten Raumschiff ist nichts mehr zu sehen. Tom Scholz scheint den Oldtimer der ersten beiden Scheiben wieder aus dem Hangar geholt zu haben, und er lässt es so vor einem dunklen All schweben, dass die Nähen zum Cover des Debüts unmöglich zu übersehen sind. Auch die Kuppelstadt Boston ist wieder in voller Schönheit zu sehen.

Bruch hat es in der Zwischenzeit im wahrsten Sinne des Wortes gegeben. Tom Scholz musste unter anderem 2007 den Selbstmord von Brad Delp verkraften. Nur der sich über lange Jahre erstreckenden Arbeitsweise Bostons dürfte es zu verdanken sein, dass er noch auf drei Titeln von Live, Love & Hope zu hören ist.

Und wie bereits zum Eingang erwähnt. Boston ist immer mehr zum Synonym für Mastermind Tom Scholz geworden. Ein Blick ins Booklet von Live, Love & Hope zeigt, dass der Meister kaum jemanden neben sich duldet.
Boston - Live, Love & Hope (2013)

Lediglich die zweite Lead Gitarre beim Titelstück, die Mundharmonika bei „Someday“ und die Flöte bei der Neuaufnahme des Klassikers „Someone“ führen dazu, dass „nur“ bei acht der elf Stücke „All Instruments Tom Scholz“ vermerkt ist. Und Scholz bleibt nicht bei den Instrumenten. Zusätzlich übernimmt er bei zwei Stücken allein und bei „Someday“ mit zwei Partnern die Lead Vocals.

Die Tatsache, dass sich der Lead Gesang auf insgesamt sieben Sänger verteilt, trägt zusätzlich dazu bei, dass Tom Scholz die unangefochtene Inkarnation von Boston ist. Kein Wunder, dass das bunte Musikerkarussell, das sich in den letzten Jahren heftig gedreht hat, kaum stilistisch ausgewirkt hat.

Auch die Songwriter Credits teilt Scholz sich nur bei „Didn't mean to fall in Love" mit Curly Smith, der auch die Mundharmonika bei „Someday“ spielt, und Janet Minto. Alles andere, sowie die Tätigkeiten als Produzent, Arrangeur und Toningenieur übernimmt der Chef selbst.

In wieweit Live, Love & Hope an alte Großtaten anknüpfen kann, muss die Zukunft zeigen. Im Dezember 2013 ist das Album erst einmal auf Platz 37 in die US-Charts einmarschiert. Damit ist der kontinuierliche Rückgang der Spitzenposition zumindest erst einmal knapp gestoppt.

Vielleicht kommt das nächste Album dann ja auch wieder etwas „schneller“. Nach dem gewohnten Acht-Jahres-Rhythmus wäre es 2021 zu erwarten. Aber vielleicht ist Tom Scholz einfach etwas älter geworden, so dass er auf Dauer einen Gang zurückschaltet hat. Dann wäre Album Nummer 7 im Jahre 2024 dran – vielleicht in Form der bereits angekündigten Live-DVD.

Bis dahin habt Ihr genug Zeit Euch mit der fantastisch aufgemachten Homepage der Band zu beschäftigen, die – und das ist ja fast selbstverständlich – im Stil einer Raumschiffzentrale aufgemacht ist.

Norbert von Fransecky


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