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Artikel

Ein Wochenende für GYÖRGY LIGETI zum 80. Geburtstag

Info

Künstler: György Ligeti

Zeit: 25.10.2003

Ort: Kölner Philharmonie

IRRWEGE, PREISWÜRDIG

Ich habe in Budapest einmal im Jux gesagt: Wenn ich sterbe und ihr unbedingt irgend etwas nach mir benennen wollt, nennt es 'György-Ligeti-Irrweg'. So fühle ich mich. (1)

Das sind erstaunlich selbstkritische Wort für einen Künstler, der zu den populärsten zeitgenössischen Komponisten gehört und der soeben zu seinem 80. Geburtstag mit allerlei Ehrungen und Preisen überhäuft wurde: Vor drei Monaten erhielt Ligeti den Adorno-Preis, jetzt gerade den schwedischen Popular Music Preis 2004 - zusammen mit B. B. King!
Ligeti (Jg. 1923) gehört zusammen mit Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen zur Avantgarde-Bewegung der 50er und 60er Jahre. Von der Sektiererei und dem Akademismus dieser Gemeinschaft hat er sich distanziert, geblieben ist die unermüdliche Suche nach einer neuen Musiksprache. Und genau hierbei, so der Komponist sinngemäß, sei er immer nur in Sackgassen geraten: Jedes Werk mit einer neuen Idee sei zugleich das letzte seiner Art geblieben, weil es weder weiterführbar noch wiederholbar sei.

Unüberhörbar ist freilich, dass es in Ligetis Musik trotz aller Verwandlungen und Entwicklungen so etwas wie eine individuelles 'Vokabular' gibt: unverkennbare stilistische Eigenheiten wie die Vorliebe für dichte, netzartige Klanggewebe und -räume, für Polymetrik und Polyrhythmik oder die Erkundung nicht-temperierter Stimmungen.
Anregungen gewinnt Ligeti aus der mehrstimmigen Musik des Mittelalters, von Bach, Beethoven und Bartók. Aber auch Folklore und Jazz haben ihn Wege zu neuen, unerhörten Klängen gewiesen: Nicht in Form von Zitaten, sondern als Methoden und Strategien. Kaum weniger aufgeschlossen zeigt er sich für die Malerei, die Mathematik, Naturwissenschaften, Computertechnologie und politische Fragen: Mich interessiert alles.(2)
Aus unterschiedlichsten Inspirationsquellen, selbstentwickelten Materialien und kompositorischen Verfahren formt der Komponist seine nicht-puristische Musik, die von Assoziationen und Allusionen geradezu "verschmutzt" sei. Dabei ist seine Musik häufig zwischen Klang und Geräusch angesiedelt. Ligeti spricht von Sonoritäten.
Dass der Komponist Synäshtetiker ist, hört man seiner Musik allenthalben an: Das unwillkürliche Umsetzen optischer und taktiler Empfindungen in akustische kommt bei mir sehr häufig vor. Zu Farbe, Form und Konsistenz assoziiere ich fast immer Klänge, wie auch umgekehrt zu jeder akustischen Sensation Form, Farbe und materielle Beschaffenheit. Sogar abstrakte Begriffe wie Quantitäten, Beziehungen, Zusammenhänge und Vorgänge erscheinen mir versinnlicht und haben ihren Platz in einem imaginären Raum.(2)

GEBURTSTAGS-KONZERT IN KÖLN

Die Stadt Köln widmete Ligeti vom 24. bis 26. Oktober gleich ein ganzes Wochenende mit Konzerten. Dabei wurden nicht nur eigene Kompositionen, sondern auch Musik jener Komponisten oder Kulturen ins Programm aufgenommen, denen Ligeti wichtige Anstöße verdankte. Z. B. erklangen am ersten Konzertabend zu Ligetis Klavieretüden auch entsprechende Stücke von Debussy, Rachmaninow, Bartók oder Chopin - Marksteine jener Tradition, in der Ligeti seine eigenen Werke sieht.

Das sicherlich faszinierendste Konzert fand dann wohl am Samstagabend in der Kölner Philharmonie statt. Mit den in allen Saitenschattierungen flirrenden und näselnden Ramifications für 12 Solostreicher (1968/69) stand zunächst Musik mit der für den 'alten' Ligeti typischen Mikropolyphonie auf dem Programm. Im Konzert war dann faszinierend nachzuhören, wie sich der Komponist kaum ein Jahr später in seinem Kammerkonzert für 13 Instrumentalisten zunehmend von den dicht verwobenen Klangnetzen gelöst hat. An die Stelle der sphärischen Klangräume sind durchhörbarere Strukturen und markantere Klangestestalten getreten. Im bizarren 4. Satz mit der Bezeichnung In präziser und mechanischer Bewegung tickte und schnurrte ein komplizierter Maschinen-Organismus auf dem Podium, der sich im irrwitzigen Presto des Finalsatzes wieder auflöste. Ligetis Vorliebe für mechanische Musikinstrumente hat sich hier ebenso niedergeschlagen wie seine Faszination für rhythmische Gitterstrukturen.
Was den musikalischen Humor angeht, bedeuteten drei Arien aus seiner Oper Le Grand Macabre (1977), ausdrücklich als Anti-Anti-Oper bezeichnet, einen Höhepunkt des Abends. Es handelt sich um eine Bearbeitung für Koloratursopran und Kammerorchester von Elgar Howarth. Mit der schauspielerisch umwerfenden, in punkto stimmlicher Virtuosität schlechthin überragenden jungen Sopranistin Barbara Hannigan wurde sich die im wahrsten Sinne durchgeknallte Musik zum großen Hörvergnügen. Hannigan trat im schwarzen Lederoutfit mit Cleopatra-Perücke auf und agierte irgendwo zwischen Domina und Gestapo-Politesse. In den vorzüglichen Asko- und Schönberg-Ensembles unter der Leitung von Reinbert de Leeuw hatte sie nicht weniger kongeniale Begleiter, die sich nicht nur auf ihren Instrumenten, sondern auch durch allerlei vokale Effekte hervortaten: Lachen, Zischen, Wispern, Zwischenrufe.

Der zweite Teil des Abends war zunächst einer der komplexesten Kompositionen Ligetis gewidmet: dem Klavierkonzert (1985/88). Das fünfsätzige Werk hat eine lange Entstehungsgeschichte und ist aus einer schöpferischen Pause hervorgegangen, in der der Komponist seine ästhetischen Positionen einer kritischen Revision unterzogen hat. Ligeti suchte einen Weg zwischen den Extremen einer versteinerten Avantgarde und der Beliebigkeit des postmodernen Ästhetizismus. Was dann mit dem Klavierkonzert herauskam, nennt er sein ästhetisches Credo.
Es zeichnet sich durch eine kontrapunktische, polymetrische und polyrhythmische Musik aus, ist weder tonal noch atonal, dabei hochvirtuos (für alle Beteiligten), hochgradig artifiziell und trotzdem affektgeladen. Die Dichte, vor allem die 'Super-Rhythmik', führt den Hörer gewiss an die Grenzen dessen, was er aufnehmen kann. Man gehe mit verbundenen Augen über einen Rummelplatz und lausche auf die ineinander wirbelnden Klänge und Musiken der Buden und Karussells, dann hat man es in etwa. Ligeti selbst erkannte später durchaus die Gefahr einer Überkomplexität.
Das Werk liegt in zwei hervorragenden Aufnahmen mit dem Pianisten Pierre-Laurent Aimard vor, der auch in Köln spielte. Dank hochauflösender CD und hingebungsvoller Interpreten kann man sich in die Klanglabyrinthe tatsächlich hineinhören - und die Musik dann aufregend schön finden! Ob das den Zuhörern jedoch am Konzertabend trotz der hilfreichen Einführung Aimards ebenso gelungen ist?
Am Ende gab es großen Applaus - ganz besonders für die Schlagzeugerin, die ihr umfangreiches Instrumentarium mit geradezu akrobatischer Könnerschaft traktierte.

Was dann folgte, war ein musikalischer Weltensprung: nach Zentralafrika zu den AKA-Pygmäen. Deren Chor sang nämlich traditionelle polyphone und polyrhythmische Musik. Eine Aufnahme mit diesen Gesängen hatte Ligeti Anfang 80er Jahre tief beeindruckt. Er erkannte sofort die Nähe zwischen seinen eigenen musikalischen Vorstellungen und dieser komplexen funktionalen Musik, die von den AKAs eigentlich nicht konzertant dargeboten, sondern als alltägliche Gebrauchsmusik zur Jagd, zu Feierlichkeiten oder religiösen Ritualen gesungen wird.
Unter der ebenso charmanten wie kundigen Moderation des Musikenthnologen Simha Arom wurde das zunehmend begeisterte Publikum Zeuge, wie sich die einzelnen Elemente dieser Musik zu immer komplizierteren Strukturen verbanden. Mit jodelnden Gesängen, Schlagzeugeinsatz und schließlich Tanz eroberten sich die 12 Sänger/innen die Bühne der Philharmonie. "Weitermachen!" forderte das Publikum. "Wenn ich jetzt nicht unterbreche, dann haben wir unter Umständen eine Session bis 5.00 Uhr morgens ...!" - "Na und!?"

HÖR- UND LESETIPS

Für alle, die neugierig geworden sind: Die Werke des Konzerts liegen in mehreren Aufnahmen vor. Empfehlenswert sind die Aufnahmen der bei Warner / Teldec erschienenen Edition The Ligeti Project (Vol. 1: u.a. Kammerkonzert und Klavierkonzert, Vol. 4 u. a. Ramifications, beide Male in der Kölner Besetzung) und die Aufnahme des Klavierkonzerts unter Pierre Boulez, ebenfalls mit P. L. Aimard (Deutsche Grammophon). Die Teldec-Aufnahme ist um jenen Tick entspannter und souveräner, die es braucht, um in die Musik hereinzukommen ...

Und weil man am besten hört, was man auch weiß, hier noch zwei Buchtips, denen auch die obigen Zitate entnommen sind:
(1) Eckhard Roelcke, "Träumen sie in Farbe?" György Ligeti im Gespräch mit Eckhard Roelcke, Zsolnay-Verlag, Wien 2003 (hier geht es weniger um die Musik als um Ligetis Biographie)
(2) Constantin Floros, György Ligeti. Jenseits von Avantgarde und Postmoderne (Komponisten unserer Zeit 26), Österreichische Musikzeit-Edition, Wien 1996, Verlag Lafite, Tel. +43-1 / 512 6869, ISBN 3-85151-038-0 (eine der besten Einführungen in Ligetis Werk, muss vom Buchändler u. U. direkt beim Verlag besorgt werden).

(c) Foto: 2001 Teldec / Gunter Glücklich

Georg Henkel


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