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JON SAVAGE: England's Dreaming - Der Punk fiel nicht vom Himmel
England’s Dreaming ist eines der besten Bücher im Bereich der Rock- und Pop-Musik, das ich bislang in die Finger gekommen habe.
Im Zentrum stehen die Sex Pistols. Der Rahmen reicht von den frühesten Wurzeln der Band bis zum Tod von Sid Vicious. Innerhalb dieser fast neun Jahren sind im Prinzip lediglich vier Singles erschienen („Anarchy in the UK“, „God save the Queen“, „Pretty vacant“ und „Hoildays in the Sun“) und das Album Never mind the Bollocks … here’s the Sex Pistols, das alle vier Single-Titel enthielt. Alles danach sind zweifelhafte Ego-Trips des Pistols-Managers Malcom McLaren oder die schlichte Vermarktung des Phänomens Sex Pistols.
Trotz dieses geringen Ausstoßes sind knapp 470 Seiten reich gefüllt. Denn es geht nicht ausschließlich um die Sex Pistols. Auch die Clash, Siouxsie and the Banshees, die Stranglers, X-Ray-Spex, the Damned, the Buzzcocks, die Heartbreakers, der 100 Club und andere Bands, die die englische Punk-Szene bildeten, werden intensiv ausgeleuchtet. Außerdem kommen die transatlantischen Counterpart, die Ramones, Patti Smith und die Talking Heads, in den Blick.
England’s Dreaming ist aber weit mehr als ein Rockbuch. Viel Raum stellt Jon Savage der Darstellung der kulturellen und politischen Hintergründe zur Verfügung. Man merkt, dass er einiges von Politik, Sozialwissenschaften und Philosophie versteht. Und er erspart dem Leser differenzierte Betrachtungsweisen nicht. Ins Soziologendeutsch verfällt er aber zum Glück nur gelegentlich, wenn es wirklich nötig ist. So wird sein Buch quasi nebenbei eine Sozialgeschichte Englands in den 70er Jahren, die nicht nur die Sex Pistols überhaupt erst ermöglicht hat, sondern auch umgekehrt von ihnen geprägt wurde. Savage macht deutlich, dass die Pistols viel mehr als eine Popband waren. Sie waren die Artikulation der Unzufriedenheit mit einem ans Ende gekommenen politischen System. Und dann wurde die Bewegung, die sie in Bewegung gesetzt hatten, das willkommene Feinbild der erzreaktionären Kräfte hinter Maggie Thatcher, das benutzt werden konnte, um die Notwendigkeit der konservativen Wende zu begründen.
Eingebettet in diesen historischen Hintergrund seziert Savage den Werdegang der Sex Pistols minutiös. Selten zuvor ist eine Band wohl so schonungslos auf den OP-Tisch gekommen. Marotten, die Unfähigkeit auf Anforderungen adäquat zu reagieren , Durchstechereien, alles das kommt zum Vorschein. Die Sex Pistols erscheinen nicht als Helden, sondern zum Teil eher als bemitleidenswerte Opfer, verantwortungslose Idioten und völlig orientierungslose Schachfiguren, die von dem schmierigen und gleichzeitig genialen Malcolm McLaren solange übers Brett geschoben werden, wie es noch irgendwie geht.
Für mich persönlich war vor allem der Vergleich mit der eigenen Vergangenheit ernüchternd. Ich erinnere mich, wie ich Heilig Abend 1977 unterm Weihnachtsbaum die Never mind the Bollocks auspackte. Ich fühlte mich dabei als grandiose Avantgarde. Keiner aus meinem Umfeld hatte zu diesem Zeitpunkt eine Punk-Scheibe im Besitz. Ich war der Erste. Jetzt weiß ich, dass die Geschichte der Sex Pistols zu diesem Zeitpunkt im Grunde schon zu Ende war. Ich gehörte zu den Mitläufern. (Wahrscheinlich hätte ich allein dadurch stutzig werden müssen, dass mir die Scheibe in der Bravo angepriesen worden war. Aber kann man mit 14 schon eine kritische Distanz zur Bravo haben?)
Besonders spannend ist der erste Teil des Buches. Von den Sex Pistols ist noch gar nicht die Rede - nur von Malcolm McLaren, Vivienne Westwood und ihrem Klamottenladen in London. Hier wird deutlich, dass die Wurzeln des Punk nicht in der Musik liegen. Es geht um Klamotten, die Selbstpräsentation, Kunstkonzeptionen. Die Musik kommt erst später dazu.
Ach ja Musik. Da war doch noch was. Zu dem Buch ist eine 25-Track-CD mit demselben Titel erschienen. Zusammengestellt von Jon Savage präsentiert sie Musik aus der Punk-Ära. Eine musikalische Illustration des Buches ist sie jedoch nicht. Viele der im Buch oft erwähnte Bands fehlen. Dafür kommen reichlich Acts zu Wort, die im Buch überhaupt nicht erwähnt werden. Daher gibt’s zur CD eine separate Review.
Mit extrem(!) ausführlicher Diskographie
Jon Savage
England’s Dreaming
Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock
aus dem Englischen von Conny Lösch
Edition Tiamat, Berlin, 2003
Verlag Klaus Bittermann
544 Seiten
ISBN 3-89320-070-3
€ 14,95
Info
Autor: Jon Savage
Titel: England’s Dreaming
Titel: England’s Dreaming
England’s Dreaming ist eines der besten Bücher im Bereich der Rock- und Pop-Musik, das ich bislang in die Finger gekommen habe.
Im Zentrum stehen die Sex Pistols. Der Rahmen reicht von den frühesten Wurzeln der Band bis zum Tod von Sid Vicious. Innerhalb dieser fast neun Jahren sind im Prinzip lediglich vier Singles erschienen („Anarchy in the UK“, „God save the Queen“, „Pretty vacant“ und „Hoildays in the Sun“) und das Album Never mind the Bollocks … here’s the Sex Pistols, das alle vier Single-Titel enthielt. Alles danach sind zweifelhafte Ego-Trips des Pistols-Managers Malcom McLaren oder die schlichte Vermarktung des Phänomens Sex Pistols.
Trotz dieses geringen Ausstoßes sind knapp 470 Seiten reich gefüllt. Denn es geht nicht ausschließlich um die Sex Pistols. Auch die Clash, Siouxsie and the Banshees, die Stranglers, X-Ray-Spex, the Damned, the Buzzcocks, die Heartbreakers, der 100 Club und andere Bands, die die englische Punk-Szene bildeten, werden intensiv ausgeleuchtet. Außerdem kommen die transatlantischen Counterpart, die Ramones, Patti Smith und die Talking Heads, in den Blick.
England’s Dreaming ist aber weit mehr als ein Rockbuch. Viel Raum stellt Jon Savage der Darstellung der kulturellen und politischen Hintergründe zur Verfügung. Man merkt, dass er einiges von Politik, Sozialwissenschaften und Philosophie versteht. Und er erspart dem Leser differenzierte Betrachtungsweisen nicht. Ins Soziologendeutsch verfällt er aber zum Glück nur gelegentlich, wenn es wirklich nötig ist. So wird sein Buch quasi nebenbei eine Sozialgeschichte Englands in den 70er Jahren, die nicht nur die Sex Pistols überhaupt erst ermöglicht hat, sondern auch umgekehrt von ihnen geprägt wurde. Savage macht deutlich, dass die Pistols viel mehr als eine Popband waren. Sie waren die Artikulation der Unzufriedenheit mit einem ans Ende gekommenen politischen System. Und dann wurde die Bewegung, die sie in Bewegung gesetzt hatten, das willkommene Feinbild der erzreaktionären Kräfte hinter Maggie Thatcher, das benutzt werden konnte, um die Notwendigkeit der konservativen Wende zu begründen.
Eingebettet in diesen historischen Hintergrund seziert Savage den Werdegang der Sex Pistols minutiös. Selten zuvor ist eine Band wohl so schonungslos auf den OP-Tisch gekommen. Marotten, die Unfähigkeit auf Anforderungen adäquat zu reagieren , Durchstechereien, alles das kommt zum Vorschein. Die Sex Pistols erscheinen nicht als Helden, sondern zum Teil eher als bemitleidenswerte Opfer, verantwortungslose Idioten und völlig orientierungslose Schachfiguren, die von dem schmierigen und gleichzeitig genialen Malcolm McLaren solange übers Brett geschoben werden, wie es noch irgendwie geht.
Für mich persönlich war vor allem der Vergleich mit der eigenen Vergangenheit ernüchternd. Ich erinnere mich, wie ich Heilig Abend 1977 unterm Weihnachtsbaum die Never mind the Bollocks auspackte. Ich fühlte mich dabei als grandiose Avantgarde. Keiner aus meinem Umfeld hatte zu diesem Zeitpunkt eine Punk-Scheibe im Besitz. Ich war der Erste. Jetzt weiß ich, dass die Geschichte der Sex Pistols zu diesem Zeitpunkt im Grunde schon zu Ende war. Ich gehörte zu den Mitläufern. (Wahrscheinlich hätte ich allein dadurch stutzig werden müssen, dass mir die Scheibe in der Bravo angepriesen worden war. Aber kann man mit 14 schon eine kritische Distanz zur Bravo haben?)
Besonders spannend ist der erste Teil des Buches. Von den Sex Pistols ist noch gar nicht die Rede - nur von Malcolm McLaren, Vivienne Westwood und ihrem Klamottenladen in London. Hier wird deutlich, dass die Wurzeln des Punk nicht in der Musik liegen. Es geht um Klamotten, die Selbstpräsentation, Kunstkonzeptionen. Die Musik kommt erst später dazu.
Ach ja Musik. Da war doch noch was. Zu dem Buch ist eine 25-Track-CD mit demselben Titel erschienen. Zusammengestellt von Jon Savage präsentiert sie Musik aus der Punk-Ära. Eine musikalische Illustration des Buches ist sie jedoch nicht. Viele der im Buch oft erwähnte Bands fehlen. Dafür kommen reichlich Acts zu Wort, die im Buch überhaupt nicht erwähnt werden. Daher gibt’s zur CD eine separate Review.
Mit extrem(!) ausführlicher Diskographie
Jon Savage
England’s Dreaming
Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock
aus dem Englischen von Conny Lösch
Edition Tiamat, Berlin, 2003
Verlag Klaus Bittermann
544 Seiten
ISBN 3-89320-070-3
€ 14,95
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